27.3.12

Leipziger Nachgeschmack, Teil IV: Freitag, 16.3.2012

»Düt-düt-düt-düüüüt – es ist 6 Uhr!« tönte es aus dem Radio eines Nachbarzimmers, fast so, als stünde das Gerät in meinem Zimmer. Ah ja, das ist der Nachbar, der meckert, wenn ich um 20.30 Uhr meine Zimmertür etwas zu heftig ins Schloß werfe, dachte ich. Immerhin hörte er Deutschlandfunk, also einen Sender mit Niveau.
Am Augustusplatz wartete die Straßenbahn Nr. 16 schon, und Dutzende von Buchmessenbesuchern sprinteten herbei, um sie noch zu erwischen.
Auf der Messe machte ich während der vier Ausstellungstage die üblichen Spaziergänge, um zu sehen, was es alles so gab: Einige russische – z. T. staatliche – Verlage stellten ausschließlich Bücher in russischer Sprache und kyrillischer Schrift aus – aber so was sind die Leipziger ja gewöhnt.
Am Stand Saudi-Arabiens gab es neben den üblichen Schmuckausgaben des Korans wenigstens den einen oder anderen Titel in englischer Sprache.
Einen Stand serbischer Nationalisten habe es auch gegeben, an dem das Massaker von Srebrenica geleugnet wurde, erzählte mir später der Autor, der Freitag und Samstag an meinem Stand war.
Mehrere Stände nicht weit von unserem stellten nichts als Regale aus: flexible mit allen denkbaren Verstellmöglichkeiten und sehr schöne, aber auch teure aus Massivholz, für den Buchladen wie fürs Privathaus. Ich schlug einem der Regalaussteller vor, seine Regale an Verlage unterzuvermieten und dann außen ans Regal einen Zettel zu kleben: »Ach übrigens – das Regal gibt's auch zu kaufen!« Auf diese Weise könnten die Kosten erheblich reduziert werden. Der Regalaussteller sah das aber nicht so positiv. Ein Regalaussteller bot an »Bei Messeschluß reduzierter Preis!«, aber als ich dann am Sonntag nach 18 Uhr dort in der Nähe vorbeikam, wußte ich die genaue Standnummer nimmer, alles sah schon fertig eingepackt aus, und Platz hatte ich in meinem Kombi eh nimmer viel, hätte es auch eh bis Montag morgen stehenlassen müssen …
Ebenso erhielt ich während der Messetage die üblichen Besuche von Leuten, die etwas loswerden wollten, z. T. angemeldete, z. T. unangemeldete. Zwei Printing-on-Demand-Druckereien im Osten kenne ich jetzt, in Ungarn und in Polen. Eine davon trägt den schönen Namen »Totem« – wäre das nicht genau das Richtige für den »Marterpfahl«?
Charon empfahl mir eine für Prospektdruck besonders geeignete Druckerei.
Eine (angekündigte) Literaturagentin aus Berlin verkaufte mir einen Roman »Dumm fickt gut«, Marcel Feige alias Christoph Brandhurst wollte auch einmal vorbeischauen, falls ihm seine Termine (wahrscheinlich bei Schwarzkopf gleich um die Ecke) Zeit ließen – aber sie ließen nicht.
An eine Betonsäule zwei Meter von unserem Stand entfernt hatte jemand am Vortag zwei identische Plakate geklebt – und nicht nur dorthin: Überall auf der Messe und in der Stadt prangten sie. »Verteidigt Trotzki!« hieß es da. Eine trotzkistische Gruppe drückte im Plakattext unter dem großen Konterfei ihres Meisters ihr Bedauern darüber aus, daß es leider nicht gelungen sei, das Erscheinen der deutschen Ausgabe im Vorfeld zu verhindern. Eine andere Linke wollte das auch mal: Als öffentlich bekannt wurde, daß die taz-Journalistin Basha Mika eine kritische Alice-Schwarzer-Biographie veröffentlichen wollte, bekam Mika Dutzende von Anrufen prominenter Leute, das doch bitte zu unterlassen. (Mittlerweile wird die Schwarzer von der CDU fast mehr hofiert als von den Linken.) Vor einigen Tagen wiederum las ich auf dem linken Internetportal »Indymedia« einen Artikel von 2006, als noch etliche Rechtsverlage an der Leipziger Buchmesse teilnahmen, »die Verbreitung rassistischen Gedankengut könne nicht geduldet werden« – im Klartext: Die Linksverlage sollen ihre Revolutionsromantik verbreiten können, nicht aber die Rechtsverlage ihre nationale Romantik. Mit den Rechten wird nicht diskutiert, sie werden kriminalisiert und ausgegrenzt (»Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.«) Da halte ich es doch lieber mit dem guten alten George Orwell: »Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann sagen zu dürfen, was andere nicht hören wollen.«
Freiheit, die sie meinten: Montagsdemonstranten auf dem Augustusplatz, Herbst 1989
Jedenfalls forderten die Trotzkisten alle Interessierten dazu auf, sich um 18.30 Uhr in einem Hörsaalgebäude der Uni Leipzig einzufinden und der »Verteidigung Trotzkis« zu lauschen.
Um 17 Uhr gingen die Charonesen, weil sie heute abend einen Bondage-Workshop außerhalb der Stadt hatten. S. und ich hielten die Stellung, so gut es ging. »Eine halbe Stunde haben die noch Zeit, Zuschauer für ihren Vortrag zu gewinnen«, sagte S. und nahm eins der zwei Trotzki-Plakate von der Säule. Er tat's wegen des großen Trotzki-Porträts, ich hängte am nächsten Tag das andere Plakat ab – erstens war die Veranstaltung eh gelaufen, und zweitens ist nicht einzusehen, weshalb zur Verteidigung eines Massenmörders und Schreibtischtäters Reklame gemacht werden soll – denn wenn auch Trotzki ein wenig besser gewesen sein mag als Stalin, ein liberaler, bürgerlicher Demokrat war er ganz sicher nicht. (Ist Ihnen das auch schon mal aufgefallen, verehrter Leser, daß alle Ermordeten gewissermaßen »kanonisiert« wurden, »heiliggesprochen« sozusagen? Der US-Präsident Lincoln wurde ermordet, also umgibt ihn quasi ein Heiligenschein, egal was er zuvor an Grausamem gemacht hat. Selbst überzeugte Nazis sollen nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom20. Juli 1944 gesagt haben: »Schade, daß er nicht tot ist – denn dann würde die Historie ewig im Zweifel liegen, ob er nicht doch noch ein Augustus geworden wäre« – denn auch der war in seiner Jugend ein grausamer Widerling. Wenn man den Kommunistenführer Thälmann angreift, heißt es: »Aber der ist doch im KZ umgekommen!« Gewiß – aber wäre er an die Macht gekommen, hätte er mitgeholfen, ein stalinistisches Regime zu errichten, das unzähligen anderen den Tod gebracht hätte …)
18 Uhr, Gong: »Die Leipziger Buchmesse schließt für heute!« S. und ich verhängten unseren Stand wie von den Charonesen angewiesen mit einer undurchsichtigen Plastikplane. Der Umsatz heute war gerade mal halb so hoch gewesen wie gestern.
Anschließend fuhren wir mit der gesteckt vollen Straßenbahn bis zum Leuschnerplatz und waren 10 Minuten später am Eingang des Lokals Bayerischer Bahnhof. Leider sei kein Platz mehr frei, beschied uns der Chef, der in seinem bayrischen Trachtenjanker höchstpersönlich am Eingang stand, und so sei es fast an jedem Abend. Nach draußen – wie etliche andere – wollten wir aber nicht, dazu war es doch noch ein wenig zu frisch, trotz des frisch hereingebrochenen Frühlings.
Ein rundes, hohes Tischchen mit zwei Barhockern gleich am Eingang war aber noch frei – genug, um zu essen und Gose zu trinken. Zum Trost spendete der Chef, ein Frrrranke, uns je ein Freibier, während er uns die Abenteuerstory seines »Lokalbahnhofs« erzählte. Mal habe die Bahn die Renovierung und den Umbau den Bahnhofs gewollt, mal nicht; er mußte kämpfen und bis zum obersten Bahnchef persönlich vordringen, um die Sache doch noch zu einem guten Abschluß zu bringen.
Nach dieser Story ließen wir uns Sauerbraten und Kalbshaxe schmecken, und ich beteiligte mich noch an S.' riesiger Kalbshaxe, S. konnte sie gar nicht alleine zwingen – nur ich war danach randvoll, wenn auch zufrieden.
Anschließend noch »Dark Horse«. Mehr als Bier für mich und eine Apfelschorle für S. war nicht drin – für mich nicht, weil mein Magen kurz vorm Überlaufen war, für S. nicht, weil er noch fahren mußte. Ich machte S. auf die Ansammlung von Hühnern aufmerksam, die das Getränkeregal hinter der Bar bevölkerten. »Der ist einer von uns!« staunte S. – in der Tat: Der Wirt wäre für eine Aufnahme in den Tübinger Satiriker- und Literatenstammtisch »Unser Huhn« geeignet.
Als wir schon im Begriff waren zu gehen, fand sich am Tresen sogar noch jemand, der bei der Trotzki-Veranstaltung dabeigewesen war und nun sein Idol mit glühenden Worten verteidigte, wohl in dem Glauben, nur weil Trotzki ein Opfer Stalins war, sei er ein guter Mensch gewesen. Außerdem schien er zu glauben, jeder Wessi wisse gar nichts über Trotzki – ein Irrtum natürlich.
Ich konnte nur noch ganz gemächlich gehen, so voll war ich – nicht mit Alkohol, sondern mit Speis und Trank ganz allgemein. Gemächlich gingen S. und ich zum Augustusplatz, wo er Abschied nahm, er stieg in die 16 zu seinem am Messegelände geparkten Wagen, wollte heute abend noch zu Verwandten, ein bis zwei Autostunden entfernt.
Ich ging wieder langsam zurück, zurück in mein Hotel, und löschte schon vor 22 Uhr das Licht.

Keine Kommentare:

Donald und Kamala, die Lovestory :-)

Sind sie nicht süß? Und Klein-Donald erst, der aus dem Bauch herauskommt! So, jetzt muß ich mal gucken, wie ich das aus FB 'runterkrieg...