Sechs Uhr morgens. Das Rauschen des Verkehrs nahm zu, die Vögel fingen an zu zwitschern. Die Stadt erwachte. Ich auch. Von einem der Nachbarzimmer war ein Fernseher zu hören. Ich machte mir ein paar Reisenotizen und döste weiter bis zehn vor acht.
Im Frühstücksraum mußte man sich die Leipziger Volkszeitung brüderlich teilen – plötzlich waren mehrere Menschen hier anwesend. Ein Frühstücksbüffet gab's nicht, sondern nur ein paar Käse- und Wurstscheiben, einen Joghurt und einen Klecks Marmelade sowie drei Brötchen für jeden, aber das war ja auch ausreichend für jeden und hält bei etwas gutem Willen vor bis zum Abend. Lieber so und nur 31 Euro pro Nacht bezahlen als luxuriöser und 50 Euro pro Nacht bezahlen – oder noch mehr. Auf der Rechnung waren übrigens die Übernachtung und das Frühstück getrennt ausgewiesen, denn die Übernachtung wird ja seit Ende 2009 nur noch mit 7 % Mehrwertsteuer berechnet – dank der Klientelpolitik der FDP.
Gegen neun Aufbruch zur Straßenbahn. Nur mit Mühe bekam ich am Augustusplatz noch einen Sitzplatz in der 16. Das war die Kehrseite meines zentral gelegenen Hotels: Die Straßenbahn war oft schon voll, wenn sie kam, und am Hauptbahnhof, eine Station weiter, wurde sie noch voller. Ganz im Gegensatz zu Frankfurt hörte man in dieser Straßenbahn kaum jemals eine fremde Sprache, und »Kopftuchmädchen« gab's auch keine – dafür aber jede Menge »Cosplayer«, darunter auch ein paar männliche.
2700 Lesungen soll's heuer in Leipzig gegeben haben, das sei europäischer Rekord, hörte ich nach der Messe im Radio. Am Samstag hätten Sie, verehrter Leser, z. B. eine Lesung des polnischen Schriftstellers Eugeniusz Tkaczyszyn-Dyck genießen können, an einem anderen Tag »Vorzelt zur Hölle« (Geschichten über Campingurlaube) und wieder an einem anderen Tag eine Geschichte, in der ein 14jähriges Leipziger Mädel in die DDR des Jahres 1984 zurückversetzt wird (da dürften ihr gehörig die Ohren langgezogen worden sein, wenn sie sich damals so ausstaffiert hätte wie heute diese Cosplayerinnen).
Überall in der Stadt gab's diese Lesungen und Veranstaltungen, auch Frau Gehrke von Konkursbuch veranstaltet ihre »Love bites« gleich zweimal an verschiedenen Orten in der Innenstadt, Kulturmaschinen macht was in der Stadt – aber auch auf der Messe selbst ertönen allerorten Musik und rezitierende Stimmen. Auf der Messe einer Lesung zu lauschen sei aber nicht so schön, sagte mir jemand, das Hintergrundrauschen störe.
Keine fünf Meter von uns entfernt halten die Linksverlage auf einer gemeinsamen Bühne Vorträge und Lesungen ab, z. B. von Jan Myrdal, einem einst von mir geschätzten schwedischen Autor, Sohn der Vorzeige-Sozialdemokraten Gunnar und Alva Myrdal und aufmüpfig gegenüber seinen Eltern – jetzt hingegen gab er (am Samstagmorgen) nur noch dogmatische Vorlesungen über die revolutionären Bewegungen in Indien (»Roter Stern über Indien«).
Meine Mitausstellerin N. von Charon fand es gut, daß diese Vorträge in unmittelbarer Nähe stattfanden, »denn das zieht doch Leute an und somit auch zu uns«. Ich bezweifelte, daß die Leute, die zu solchen Vorträgen strömten, eine mögliche Klientel von uns waren ...
Rein in die Straßenbahn am Augustusplatz, nordwärts zum Hauptbahnhof und rund ein Dutzend Stationen weiter nordwärts, bis kurz vor der Autobahn die Endstation Messe erreicht ist. (Die S-Bahn hält 500 m entfernt.)
Von der S-Bahn-Haltestelle zog schon ein Menschenstrom, darunter viele Cosplayer, Richtung Messe (dort gab es auch einen »Waffencheck«), an der Trambahnendhaltestelle verstärkte sich noch der Menschenstrom, der sich in die riesige, gläserne, tunnelförmige Haupthalle der Messe ergoß, in deren Mitte man 20 m hohe Palmen wachsen lassen könnte.
Bombastisch: Die Eingangshalle der Messe Leipzig
Diese Halle wurde schon um neun geöffnet, die Zugänge von dort zu den einzelnen Ausstellungshallen allerdings waren noch bis zehn von Wärtern abgesperrt, bis der Gong ertönte und die Massen die Wärter einfach beiseite schoben. In den Hallen wurde man allerdings schon etwa 7 bis 8 Minuten vorher auf die Öffnung aufmerksam gemacht, nicht erst 5 Minuten vorher wie in Frankfurt. Der Schlußgong war dafür immer um Punkt 18 Uhr, nicht früher.
In Abwesenheit der meisten Fachverlage war die Leipziger Buchmesse eine einzig auf gemütlichen Lesegenuß ausgerichtete Messe, so gemütlich, daß das gemütlich-behäbige Bild eines lesenden Mannes im Sessel auf dem Frame der Messe-Website viel zu viel Platz wegnimmt, so daß nur unten viel zu wenig Platz bleibt für das, was man wirklich wissen will.
Macht sich überall breit: der allgegenwärtige lesende Leipziger
Seit 1998 finde die Messe in den neuen Messehallen statt, las ich. In den alten Messehallen südöstlich vom Stadtzentrum sei eine Steigerung des Umsatzes nicht mehr möglich gewesen, hieß es. In den neuen Messehallen hingegen sei er gleich wieder gewachsen, der Umsatz, um soundso viel Prozent. Um wieviel Prozent die Kosten der Stadt angestiegen waren, wurde leider nicht verraten …
Von Anfang an schoben sich ganz normale »Nichtfachbesucher« durch die Gänge – warum darf man dann aber nicht verkaufen? Ich tat es natürlich trotzdem (mit Messerabatt) – zumal ich zunächst gar nichts von dem Verkaufsverbot wußte. 130 Euro Umsatz hatte ich gemacht, als um 18 Uhr der Schlußgong ertönte. Wenn es sich noch auf 200 bis 250 Euro pro Tag steigern würde, würde ich diese Buchmesse mit geringem Verlust verlassen und könnte nächstes Jahr wiederkommen. (Meine Standhälfte kostete rund 500 Euro, das Hotel rund 190 Euro, das Benzin vielleicht 100 Euro, und für Speis und Trank und Sonstiges gingen bestimmt 140 Euro drauf.)
Zwischendurch kam S. einmal, informierte mich über diverse interessante Stände von Verlegern aus der Esslinger Gegend, die er besucht hatte. Ich war inzwischen beim Stand des Bundes für deutsche Schrift und Sprache gewesen und hatte ihnen die Fraktur-Sonderausgabe des »Hauslehrers«, eine meiner Messe-Neuerscheinungen, gezeigt, ihnen ein Exemplar dagelassen. (Aber es war ihnen zu unkeusch, das erfuhr ich – nicht zu meiner Überraschung – zwei Tage später.)
Einen weiteren Fraktur-Verlag gebe es noch, so S., die »Literaturmühle«, betrieben und gegründet von einem wahren bayrischen Urviech. Das war der Verlagsgründer auch wirklich (1,90 m groß und fast ebenso breit, Vollbart), aber daß er eine Frau vom Niederrhein geheiratet hatte, das hatte ihm einige seiner Kumpel übelgenommen. Ich ließ ein Exemplar meines Fraktur-Hauslehrers da.
Inzwischen war die Sonne herausgekommen, es war schon fast so mild wie im heimischen Südwesten.
18 Uhr: Schlußgong. In der gesteckt vollen Straßenbahn fuhr ich (stehend) südwärts. Beim Hauptbahnhof verließen viele die Straßenbahn – nur um wieder fast ebenso vielen Zusteigenden Platz zu machen. Noch eine Station weiter bis zum Augustusplatz, und als ich mich endlich im »Weißen Roß« auf einen Stuhl plumpsen ließ, war es 19 Uhr. Eigentlich müßte S. jetzt auch zur Tür reinkommen, aber er hatte mich schon darauf vorbereitet, daß es später werden könnte.
Es wurde 19.20 Uhr. Noch viel erschöpfter als ich ließ sich S. auf einen Stuhl mir gegenüber plumpsen, tippte noch online drahtlos an seinem Artikel weiter – dann ließen wir beide uns unser Schnitzel schmecken.
Anschließend zogen wir zum Leuschnerplatz am Südrand der Altstadt und stiegen dort in eine Trambahn Richtung Süden, Richtung Connewitzer Kreuz, in dessen Nähe es laut Reiseführer nette Kneipen geben sollte. Fast hätten wir 40 Euro zahlen müssen, denn wie der uns kontrollierende Beamte sagte, seien die Ausstellerausweise und Presseausweise nur zwei Stunden vor und nach der Messe gültig und auch nur für die direkte Fahrt zur und von der Messe – aber wenn es bei einem Journalisten mal länger dauert, weil er eine Reportage über einen bestimmten Verleger schreibt, ja dann …
Die Gegend rund ums Connewitzer Kreuz war ziemlich vergammelt – zumindest bis in drei Meter Höhe war alles dermaßen mit Graffiti verschmiert, daß Berlin-Kreuzberg damit verglichen sauber war. »Nazis raus!« konnte man besonders häufig lesen.
In einem Lokal »Waldfrieden« zogen wir bei Live-Gitarrenmusik noch drei Bier, dann fuhren wir gegen Mitternacht mit der wahrscheinlich letzten Tram wieder Richtung Stadtzentrum, wo ich am Augustusplatz ausstieg und S. in die Linie nach Südosten umstieg.
S. hatte noch eine weite Trambahnfahrt vor sich und danach einen weiten Fußweg (auf dem er sich prompt wieder verirren sollte) zu seinem Hotel in Markkleeberg, ganz im Süden.
Neuerscheinungen aus dem Marterpfahl Verlag, Aktuelles, Politik - die Chronik des laufenden Wahnsinns ... - Der Marterpfahl Verlag ist seit der Jahresmitte 2024 Geschichte, den »aktuellen Wahnsinn« gibt es noch (leider), und es wird auch in Zukunft als freiberufliche Tätigkeit gelegentlich Neuerscheinungen geben, unter was für einem Label auch immer :-)
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