Schreck in der Morgenstunde: Meine Aktentasche mit Wechselgeldkasse, Notizbuch und allen Unterlagen ist weg – ich muß sie wohl im »Schwarzwaldstübchen« liegengelassen haben. Das hatte um diese frühe Stunde natürlich noch zu, aber wenigstens hing ein Schild im Schaufenster: »Freundliche Bedienung gesucht, Telefon xyz«. Ich notierte mir die Nummer und eilte zur Straßenbahn.
Ein Dutzend Straßenbahnstationen, dann in die S-Bahn, Treppe rauf, durch die Kontrolle, Rolltreppe runter, Messe-FAZ einstecken, Rechtsschwenk in Halle 4.1.
Auf dem Klo am unteren Rand der Kabinenwand der Spruch: »Beware of the limbo dancers!«
Der Gong ertönte, und wenig später begann der zweite Tag dieses Jahrmarkts der Eitelkeiten. Wer schaffte es z. B., von der Messe-FAZ gewürdigt zu werden, und wer nicht? Wir von Charon bzw. Marterpfahl schon mal nicht, das steht fest. Unter »Poetologie heute« brachte die Messe-FAZ Fotos von, nun ja: neun unterschiedlich bekleideten Ärschen, die etwas über ihre Träger aussagen sollten. Recht feminin gekleidet – mit roten Rüschchen und so – war Daniela Katzenberger. Ein Blick über ihren Amazon.de-Eintrag belehrt uns über diese Figur: Eine Frau, die – ähnlich wie vor Jahren Verona Feldbums – einen auf blondes Dummchen macht, damit aber schlau abzukassieren gedenkt. Bislang scheint ihre Kalkulation aufzugehen.
Ein ganz anderes Kaliber – schon textil, in seriösem Schwarz – ist da Sibylle Lewitscharoff, Trägerin des renommierten, altehrwürdigen Kleistpreises und weiterer Literaturpreise. Im Interview der Messe-FAZ äußerte sie über Margot Käßmanns während der Buchmesse 2009 hochgejubelten, laut Deutschlandfunk-Literaturpapst Denis Scheck ziemlich verschwurbelten Bestseller »In der Mitte des Lebens«: »FAZ: Als »Begierdekatholikin« wurden Sie in einer Rezension bezeichnet ... Da war ich doch erstaunt. Und ich hadere natürlich mit meiner Kirche, weil sie so lästerlich schlecht dasteht und sich so sehr von einer substantiellen Predigerhaltung abgekehrt hat zugunsten eines modernen Plapperatismus. Für mich sind Figuren wie Margot Käßmann wirklich ein rotes Tuch – diese Art von Gequassel! Das ist für mich auf lange Sicht die radikale Kirchenzerstörung. Und da stehen die Katholiken mit ihrer sehr viel würdigeren Form – bei allen Verwerfungen, die es sonst bei den Katholiken selbstverständlich gibt – viel besser da. Was mich aber nicht zu einer Konversion führen wird.«
Wer keinen Kleistpreis hat, muß da schon anderes Geschütz auffahren – ein sehr auffälliges, extrem geblümtes Kleid zum Beispiel, so eins, wie es Judith Schalansky anhatte: »Kommunikationsdesign hat J. S. studiert. Klingt total logisch, oder? Was für ein Geblüm! Das kann man ja stundenlang hin und her wälzen. So ein illustres illustratives Gewimmel findet man ja auch auf der abgelegensten Insel nicht.« (Messe-FAZ)
»Franz jagt im komplett verwahrlosten Taxi quer durch Bayern« – kennen Sie diesen Satz, verehrter Leser? Wenn Sie jemals ein Schriftmusterbuch einer Druckerei oder die Schriftmuster Ihrer Computer-Fonts angeschaut haben, bestimmt. In diesem Satz kommen nämlich alle Buchstaben des Alphabets vor, er eignet sich daher hervorragend, um zu zeigen, wie das Schriftbild einer bestimmten Schriftart aufs Auge wirkt.
Schalansky hatte vor zwei, drei Jahren ein Buch »Fraktur, mon amour« geschaffen, ein herrliches Buch mit Mustern unzähliger Frakturschriften nebst einer CD, ein Buch, das es sogar in den Vertrieb von »Last Gasp« aus San Francisco, unseres Standnachbarn, geschafft hatte – auf dessen Homepage ich es kennengelernt hatte. Ich kaufte es dann aber doch lieber beim Mainzer Originalverlag. Pro Seite wird dort eine Fraktur erläutert, und einen Beispielsatz gibt es auch: »Als der fiese Konsul den Rang verließ, blickte das Luxus-Geschöpf zum flamboyanten Matrosen und verschlang einen Bissen Hochzeitstorte!« Falls dieser Satz alle Buchstaben des Alphabets enthielte, wäre das reiner Zufall – er klingt aber wenigstens genauso schön bescheuert wie der Satz von Franz und seinem Taxi. Schalansky variiert diesen Satz auch noch, so daß man sich bei jeder neuen Seite auf eine neue bescheuerte Variante freuen kann, z. B.: »Als der filigrane Konsul das öffentliche Bankett verließ, blickte das hysterische Luxus-Geschöpf zur sanften Souffleuse und verschlang hastig einen großen Bissen Hochzeitstorte« oder »als der affige Konsul das langatmige Theaterstück verließ, blickte die Dame von Welt pathetisch zum durstigen Matrosen und verschlang mit drei großen Bissen die ganze Hochzeitstorte!« Und so weiter und so fort ...
Dann schrieb Schalansky ein Buch über einsame Inseln und jetzt eins über Giraffenhälse, reich bebildert, und mit all diesen Aktivitäten schaffte sie es mehrfach in die Messe-FAZ und sogar für ein Fernsehinterview aufs berühmte blaue Sofa im Foyer von Halle 5 und 6, was ich mehr von Herzen gönne als all den Katzenbergern, Käßfrauen, Bohlens und Roches und wer da noch auf der medialen Suppe als Fettauge ganz oben schwimmt.
Judith Schalansky mal ungeblümt: Beim Signieren von »Fraktur mon amour«
»Last Gasp« war übrigens diesmal nicht mit Colin Turner vertreten, der war in Babypause. Am Schreibtisch seines Messestands klebte ein Foto seiner Tochter mit der Geburts-Uhrzeitangabe »12.47 a. m.«, womit vermutlich 12 Uhr 47 mittags gemeint war und nicht 0.47 Uhr, und das, obwohl doch eigentlich um Punkt 12 der Nachmittag beginnt. Grimme: »Wegen so was hab ich mal ein Flugzeug um 12 Stunden verpaßt!«
Einen anderen Weg, um Aufmerksamkeit zu erheischen, hatte der Schriftsteller Christian Ankowitsch gewählt – als »Sandwich«, d. h. mit einem Plakat auf dem Bauch und einem auf dem Rücken. Anfangs stand gar nichts darauf, was die FAZ zu einem Interview veranlaßte (Ziel vorerst schon mal erreicht!): »Auf der Messe zählt nur eins: Aufmerksamkeit. C. A. versucht es dialektisch. FAZ: So wollen Sie auf die Messe? Aber ja. Ein Sandwich ohne Text? Das ist ja hier nur der Testlauf. Da wird von Mittwoch an stehen: »Beachten Sie mich bitte nicht!« Wie bitte? Der Autor C. A. will keine Beachtung? Jein. Das ist so ähnlich wie bei den lügenden Kretern. Sofern das Epimenides der Kreter sagt. Und nicht etwa die Weltbank. Exakt. Wie heißt denn Ihr Buch, das Sie damit doch sicher bewerben wollen? »Mach’s falsch und du machst es richtig!« Klingt irgendwie – falsch. Richtig. Hätten Sie da mal ein Beispiel für uns? Klar. Den großen Diogenes-Verleger Daniel Keel. Der hat 2005 eine Liste seiner am schlechtesten verkauften Bücher des Jahres veröffentlicht. Indem er seinen Mißerfolg öffentlich machte, hat er die Auflage des größten Ladenhüters um fast tausend Prozent gesteigert. Na gut, das waren trotzdem bloß 288 Stück, aber es kann durchaus klappen, wenn man’s gut falsch macht.«
Ende 2006 gab es in der Sonntags-FAZ sogar einen Artikel »Der Gammelbuchskandal«, der berichtete, in welch geringen Stückzahlen manche modernen Klassiker verkauft würden, etwa »Der Aufstand der Fischer von Santa Barbara« – keine einzige Schulklasse las, die müßten, so die FAZ »Böll lesen und Grass lesen, bis ihnen der Butt zu den Ohren herauskommt«, 1928 errang das Buch seiner Autorin den Kleistpreis, und jetzt das: Kaum zwei Dutzend Stück pro Jahr. – Ob die Klage was genützt hat?
Gegen elf rief ich auf Nicoles Handy die Schwarzwaldstube an: Ja, man öffne um 13 Uhr, ja, die Tasche sei da, sagte eine zerknautschte Stimme. Ein Stein fiel mir vom Herzen, ich ließ Grimme und Nicole mit dem Stand allein und fuhr in fast leerer Straßenbahn nach Höchst, fotografierte bei herrlicher Mittagssonne vom Aussichtsdeck des Hotelschiffs mainabwärts und war um 13.06 in der Schwarzwaldstube, wo man schon auf mich wartete: »Jetzt kommt er!« Normalerweise öffne man erst um 18 Uhr, besonders weil man ja erst am Morgen ins Bett komme, aber mir zuliebe habe man schon um 13 Uhr aufgemacht. Es gibt doch noch nette Menschen auf der Welt. Das erste Bier war noch mehr Schaum als Bier, aber es mußte jetzt einfach sein.
Wieder zurück zur Messe. Auf der Straßenbahn wurde für Taiwantourismus geworben – aber Taiwan wird Malle wohl nicht den Rang ablaufen können.
Bald würde es 16 Uhr sein – Zeit, an den Ausklang des Abends zu denken. In dem kleinen Laden in Halle 4.1. gibt es neben Knabberzeug fast nur noch Pappbecher und Getränke: vom Dosenbier bis hin zur über 40 Euro teuren Pommery-Flasche – zur Feier eines erfolgreichen Abschlusses. Ich decke mich mit Bier und Sekt ein. Wieder zurück an unseren Stand.
16 Uhr: Auf einmal war S. da, mein Messeboy von 2010. Er hatte eine stressige Anreise gehabt: Staus auf der Autobahn hatten die Fahrzeit Eßlingen-Frankfurt auf vier Stunden verlängert, und obendrein wollte er heute nacht noch zurückfahren. Ich überredete ihn dazu, in meinem Doppelzimmer zu übernachten, und mobiltelefonisch erhielt er für 15 Euro von »meinem« Hotelier auch die Genehmigung dafür. Eine Nacht lang würde ich sein Schnarchen wohl aushalten.
Nach S.‘ Ankunft gab es ein großes Hallo, auch an den Ständen ringsum. Er fing fast sofort an, das Publikum wie 2010 zu belabern, und ich konnte derweil – um 17 Uhr – eine Flasche Sekt köpfen. Wie 2010 benutzte ich den Kühlschrank der Goliaths. Es wurde richtig nett. Da brauchte man gar nicht mehr zu anderen Empfängen zu gehen, wie es die Messe-FAZ vorschlug: »17.00 Uhr: Erst zur Happy Hour am Stand des katholischen Medienverbandes – und dann husch-husch hinüber zum schwul-lesbischen Sektempfang. Halle 3.1 H 104 bzw. Halle 4.1 D 153.«
Feierabendgong. S. und ich spazierten zur S-Bahn, verließen sie an der Station Ostendstraße, speisten hervorragend und ziemlich günstig in dem Lokal gegenüber der Venusberg-Bar, betraten diese, und nach einigem Geplänkel wurde es dann für mich ernst: Meine Lesung begann etwa um halb neun.
Es handelte sich um eine Art »Finissage«. Was eine Vernissage ist, weiß fast jeder: eine Ausstellungseröffnung. Eine Finissage ist eine Ausstellungsschließung. Ich las Geschichten – von meiner und fremder Feder –, die laut Aussagen von Lesern und Bekannten schön waren, die aber Ladenhüter waren und demnächst entweder eingestellt oder in neuen Titeln verwertet. Die Reaktion der Handvoll Zuschauer – teils eigens gekommen, teils Zufallsgäste – war positiv, fast jeder kaufte etwas. (Prospekte hatte ich unprofessionellerweise vergessen). Am Schluß tauchte dann im Kimono noch Peter Zingler auf, eine der Nervensägen von 2010, und fragte pseudolustig, wo denn der Marterpfahl geblieben sei. »Schon wieder abgebaut«, konnte ich sagen und auf die Straße gehen, Richtung S-Bahn.
Zuvor bekam ich aber nach dem Vortrag viele Fragen gestellt, während ich mich bei einem Bierchen entspannte. Vielleicht eine Stunde später saßen S. und ich wieder in der S-Bahn Richtung Messe. S.: »Ich hab’s mir überlegt, ich fahre doch jetzt gleich nach Hause, dann kann ich morgen früh gleich den Bericht verfassen.« Er stieg am Hauptbahnhof aus und ließ sich von einem Taxi zum Parkhaus Rebstock bringen, in dem sein Wagen stand, erzählte später, was für Schwierigkeiten er dabei hatte: »Ich war an einen depressiven Taxifahrer geraten, der gar nicht genau wußte, wo das Parkhaus Rebstock war, dann, als ich endlich dort war, hatte ich keinen Zehn-Euro-Schein mehr, um am Automaten zu kassieren – ich kaufte einem besoffenen Paar, das sowieso nimmer hätte fahren dürfen, seinen Parkschein ab und war gegen Morgen zu Hause.«
Als ich in Höchst aus der Straßenbahn stieg, war es gegen Mitternacht, und alle Kneipen hatten schon zu, weshalb ich ohne einen Absacker direkt zu meinem Hotelschiffchen ging.
PS: Der orientalische Herrscher auf der Eröffnungsfeier war wahrscheinlich der Emir von Schardscha (englisch: Sharjah), einem der 7 vereinigten Emirate, gleich bei Dubai um die Ecke, groß wie das Saarland und mit einer Website ausgestattet: Schardscha!
Neuerscheinungen aus dem Marterpfahl Verlag, Aktuelles, Politik - die Chronik des laufenden Wahnsinns ... - Der Marterpfahl Verlag ist seit der Jahresmitte 2024 Geschichte, den »aktuellen Wahnsinn« gibt es noch (leider), und es wird auch in Zukunft als freiberufliche Tätigkeit gelegentlich Neuerscheinungen geben, unter was für einem Label auch immer :-)
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