»Der Gammelbuchskandal«

So war ein interessanter Artikel in der heutigen Samstags-FAZ überschrieben. Schon vor ein, zwei Jahren hatten sie mal dargelegt, daß viele geisteswissenschaftliche Bücher sich so langsam verkauften, daß noch nach Jahrzehnten was von der Erstauflage da war. Die Hitliste der »Worstseller« führte ein Kirchenrechtshandbuch aus dem Jahre 1820 an, dessen Erstauflage immer noch lieferbar war (und wahrscheinlich nur noch historischen Wert besaß).

Doch auch bei Belletristik scheint's das zu geben. Freilich, man muß aufpassen (das ist meine und des Artikelschreibers Meinung), daß man nicht einem Trugschluß unterliegt: Nicht alle Bestseller sind literarisch schlecht, und nicht alles, was nicht gut geht, ist eine verborgene literarische Perle.

Dennoch: Wie kann es sein, daß von der Erstauflage von Goethes »West-östlichem Diwan« in den 1920er Jahren immer noch nicht alles verkauft war? Das »Unbekannte Werk« des Bestsellerautors Erich Maria Remarque (»Im Westen nichts Neues«) wird wohl auch weiterhin unbekannt bleiben, denn Kiepenheuer & Witsch verkaufte 2006 ganze 17 Exemplare davon. Gut - daß ein Titel wie Muriel Sparks »Vorsätzlich herumlungern« nur auf 6 verkaufte Exemplare kommt, mag man ja noch verstehen, aber daß Titel von George Orwell, William Faulkner oder Jean Améry bei wenigen Dutzend Exemplaren herumdümpeln und Dashiell Hammetts Kriminalstories unter dem Titel »Das Haus in der Turk Street« bei 67 Stück, erscheint kaum verständlich (wäre eine Story als Krimi verfilmt worden und käme der Film ab und zu im Fernsehen, wär's sicher anders).

Und gar die »Fischer von Santa Barbara«! Der FAZ war dies sogar eine Glosse neben dem eigentlichen Artikel wert: »Unglaublich! Nur 22 Menschen wollten in diesem Jahr Anna Seghers Erstlingswerk ›Der Aufstand der Fischer von Santa Barbara‹ kaufen. Wenn sich nur EINE Schulklasse entschieden hätte, das Buch zu lesen! Schulklassen müssen jeden erdenklichen Unsinn über sich ergehen lassen, Hesse lesen, Grass lesen, hunderttausendfach, bis ihnen der Butt mit dem Siddharta zu den Ohren herauskommt - aber die ›Fischer von St. Barbara‹: Die will man doch kennenlernen. [Offenbar nicht ... R. H.] Fernweh, Strände, Kampf, die Geschichte der schönen Marie. Und so glatt und klar geschrieben! Die ›Fischer‹ waren für die Literatur, was das Bauhaus für die Architektur war, 1928 gab es den Kleistpreis dafür, und jetzt das: 22 Leser. So geht das nicht.«

Ja, amen. - Na, ein Trost bleibt mir jedenfalls: Wenn selbst von manchen Werken der erlesensten Koryphäen nur wenige Dutzend Stück pro Jahr verkauft werden, dann brauche ich mich ja nicht zu genieren, wenn ich von »Windeln, Stöckchen, strenge Gouvernanten« nur 50 Stück pro Jahr verkaufe und vom ewigen Sorgenkind »Cagliostro-Lesebuch« kaum 100 ... (Ich überlege mir gerade, ob ich dieses Jahr meine halbjährliche »Hitlisten«-Rundmail an die Autoren und Freunde meines Verlags offen hier 'reinstellen soll. Hm, mal sehen ...) - Auf jeden Fall kann und sollte man in einzelnen Fällen mehr tun, denn so viel verstaubtes Papier ist nichts als totes Kapital, das ist sicher. (Hätte es zu Goethes Zeiten bereits Printing on demand gegeben, wär das nicht passiert, daß die »Diwane« da ein Jahrhundert lang vor sich hingammeln ...)

(Zum ersten Mal mit dem Phänomen konfrontiert wurde ich in den 80er Jahren. Ich suchte nach einer deutschen Übersetzung von Reden des attischen Redners Lysias, den wir in einer Stilübung in der Uni zur Grundlage unserer Übungen machten. Und obwohl Lysias mit seinem schmucklosen, einfachen Griechisch eine beliebte Anfängerlektüre war und ist - vergleichbar Cäsars »Gallischem Krieg« -, gab es keine deutsche Übersetzung, jedenfalls nicht im Westen. Die von Reclam DDR war im Westen nicht lieferbar, aus irgendwelchen juristischen Gründen. Da hätte man schon in die Schweiz fahren müssen, um sie zu bestellen. Dann fand ich im VLB - Verzeichnis lieferbarer Bücher - doch noch deutsche Übersetzungen und bestellte sie. Als ich sie bei Osiander abholte, gab man mir ein Plastiksäckchen mit winzig kleinen Büchern und sagte, so was habe man noch nie gesehen. Die winzigen Heftchen enthielten z. T. in Fraktur gesetzte superwörtliche Übersetzungen, an den freier übersetzten Passagen stand die superwörtliche Übersetzung in Klammern - kurz, es war das, was in Schülerkreisen mitunter »Schlauch« genannt wird: Ein Heft zum Spicken unter der Bank. Bei einigen Heften war der thüringische, jetzt vom Kommunismus okkupierte Vorkriegsstandort des Verlags mit einem Aufkleber der aktuellen oberfränkischen Adresse überklebt, bei anderen, offenbar noch älteren Heften (offenbar hatte man das ganze Lager winziger Heftchen mit in den Westen genommen)waren sogar noch in Hellern ausgedrückte Preise zu sehen (durchgestrichen), und im Anhang wurden berufsberatende Schriften beworben zu Berufen, die schon längst nicht mehr existierten oder nicht mehr in der Form existierten ... So haben Pfarrer ja schon lang nichts »Preußisch-beamtenhaft-karrieremäßiges« mehr ....)

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