27.11.11

Westerwelle fühlt sich durchgerüttelt (DI, 11.10.11)

Nach dem Frühstück um zehn nach acht döste ich noch weiter bis 10 vor 10. Es hatte ja keine Eile heute. Zeit genug, sich zu pflegen. Eine Dusche und ein Klo gab’s für vielleicht 20 Kabinen auf dieser Etage, und die Dusche mußte man minutenlang aufgedreht laufen lassen, bis warmes Wasser kam. Eigentlich ganz schön primitiv für 65 Euro pro Nacht und Doppelzimmer, aber ein Schiff ist eben was ganz Besonderes.
Um 10.45 Uhr verließ ich das Hotelschiff und schlenderte 200 Meter bis an den Ostrand der Altstadt.
Die Straßenbahnlinie 11 verbindet die Schießhüttenstraße in Fechenheim, ganz im Osten, mit der Zuckschwerdtstraße in Höchst – welch kriegerische Namen! In Höchst fährt die 11 eine Schleife: An der Zuckschwerdtstraße heißt es »Endstation! Alles aussteigen!«, dann fährt die Bahn ca. 150 Meter vor, und am Bolongaropalast dürfen dann wieder Leute einsteigen – Leute wie ich, die in die Innenstadt oder zur Messe wollen. So nah am Hotel – kaum mehr als 250 Meter, selbst mit Ampelstop kaum fünf Minuten zu Fuß – hatte ich bislang noch keine Bahnhaltestelle. Es würde genügen, morgens um 8.10 Uhr loszustiefeln statt um 7.50 Uhr.
Bergauf aufs Main-Steilufer und weiter zum Bolongaropalast. Dieser ist zum Main hin pompös, während die Straßenfront zur Bolongarostraße hin relativ bescheiden wirkt.
»1772 bis 1774 ließen die aus Stresa am Lago Maggiore stammenden Kaufleute und Tabakfabrikanten Josef Maria Markus und Jakob Philipp Bolongaro den Palast errichten. Die Brüder Bolongaro hatten sich 1735 in Frankfurt am Main niedergelassen und dort die größte Tabakhandlung und Schnupftabakmanufaktur Europas gegründet. Trotz ihres dadurch erworbenen beträchtlichen Vermögens hatten sie sich vergeblich um das Bürgerrecht der Stadt Frankfurt am Main bemüht, das ihnen als Katholiken in der lutherischen Reichsstadt Frankfurt verwehrt wurde. Daher waren sie schließlich auf ein Angebot des Kurfürsten Emmerich Josef von Mainz eingegangen, sich in der 1768 gegründeten Höchster Neustadt anzusiedeln. 1771 wurde Josef Maria Markus Bolongaro Bürger von Höchst. Das Neustadtprojekt wurde nach dem Tod des Kurfürsten im Jahr 1774 aufgegeben, und auch die Bolongaros nutzten den Palast nur kurz. Nach dem Tode von Josef Maria Markus 1779 einigten sich die Erben mit dem Frankfurter Rat schließlich doch noch und erhielten 1783 das Frankfurter Bürgerrecht. Der Palast diente in der Folge als standesgemäßes Quartier diverser Heerführer während derKoalitionskriege, die bekanntesten waren der in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagene Kaiser Napoleon Bonaparte, der vom 1. auf den 2. November 1813 hier seine letzte Nacht auf damals deutschem Boden verbrachte (das nahe Mainz gehörte damals bereits zu Frankreich), sowie der ihn verfolgende preußische Marschall Blücher, der den Palast vom 17. November bis 27. Dezember als Hauptquartier nutzte.
Die Familie Bolongaro verkaufte 1862 ihren Palast an den Mainzer Fabrikanten Friedrich August Sonntag, der dort eine Fabrik für Gas- und Wasserleitungen einrichtete. 1880 kaufte der Rödelheimer Pfarrer Eduard Lohoff den Bolongaropalast, teilte die Liegenschaft in kleinere Einheiten auf und veräußerte einige davon weiter. Der Bolongaropalast wurde weiter als Fabrikgebäude genutzt, unter anderem als Messinggießerei oder zur Herstellung von Bettfedern. Dies führte zu Beschädigungen der reich ausgeschmückten Innenräume.
In den Jahren 1907 und 1908 kaufte die Stadt Höchst die parzellierte Liegenschaft den jeweiligen Eigentümern ab, restaurierte den Palast aufwendig für ca. 400.000 Reichsmark und führte ihn wieder einer repräsentativen Nutzung zu. Er diente von 1908 bis zur Eingemeindung der Stadt Höchst 1928 als Rathaus. Heute beherbergt er die Stadtbezirksverwaltung und im westlichen Pavillon des Parks ein Standesamt. Seit der Eingemeindung von Höchst besitzt der Frankfurter Oberbürgermeister ein Büro im Palast. Von 1947 bis 1950 hatte auch der Deutsche Landkreistag seine Geschäftsstelle dort. Der frühere Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb(* 1902, † 1956) wohnte im Westflügel des Palastes. Die Straßenfront der Nordfassade ist 117 Meter lang. Der Grundriß des dreiflügeligen Palasts hat die Form eines Hufeisens. Der Park, der sich auf der hinteren Seite befindet, fällt in zwei Terrassenstufen ab und wird im unteren Teil von zwei Gartenpavillons flankiert.« (Wikipedia)
Straßenfront des Bolongaropalasts, unweit der Trambahnhaltestelle
Südfront des Bolongaropalasts, Richtung Main
Und im Südwesten des Palasts das heutige Höchster Standesamt - und dann husch husch aufs Schiffchen! :-)
So so. Deshalb konnte also das »Hotelschiff Schlott« spezielle Hochzeits-Arrangements anbieten! Klar – das Standesamt ist kaum hundert Meter entfernt!
Am Bolongaropalast rein in die Trambahn und ostwärts! Bei halbwegs klarem Wetter sieht man von Höchst aus schon den Messeturm, das Ziel der Reise. Die Bahn kutschierte mich durch Nied. Ein paar grüne Wiesen, dann zeigte ein altes, grünes Haus mit der Hausnummer 800 das westliche Ende der ewig langen Mainzer Landstraße an. Man brauchte eigentlich gar nicht auf die Haltestellennamen zu achten, es genügte, auf die Hausnummern zu achten: Unterschritten sie die 250, so war die Galluswarte nicht mehr fern.
Galluswarte: Raus aus der Straßenbahn, rein in die S-Bahn, eine Station weit, dann rein in die Messe. Bis etwa 16 Uhr dekorierte ich. Nebenan war wieder dieselbe Künstlerin wie 2010, schräg gegenüber wieder der Goliath-Stand.
Gegen 16 Uhr kam Grimme von Charon mit seiner Nicole, dem Messegirl und »Fesselopfer«. Ich mußte mich verabschieden, denn es wurde Zeit für die Eröffnungsveranstaltung.
Einlaßkontrollen wie auf dem Flughafen. Innen drin eine Bar – ah, ein erstes kleines Bier! Kopfhörer für Übersetzungen waren zu haben, Pressetexte aller Reden (»Freigabe: 18 Uhr«).
Rein in den »Saal Harmonie«, in dem noch etliche Plätze leer blieben. Zuletzt zogen die Ehrengäste ein, namentlich von einem Sprecher begrüßt, darunter auch »Der Herrscher von Scha-Scha« oder so ähnlich. Letzteres weckte meine Neugier, aber ich konnte nichts Näheres sehen oder erfahren. (Wissen Sie, wo »Scha-scha« ist, verehrte Leser?)
Die Eröffnungsrede hielt wie üblich Gottfried Honnefelder, der Vorsteher des Börsenvereins. »Wer hat diesen Mundwinkel so heruntergezogen? Piraten, Piraten, Piraten!« lästerte die Messe-FAZ später – jene Mitglieder der Piratenpartei, die vor dem City-Eingang der Messe ganz offen für die weitgehende Abschaffung des Urheberrechts und die Legalisierung der Raubkopie demonstrierten mit Sprüchen wie »Control + C, Control + V« oder »Das Internet ist euer Tod«. Honnefelder nahm den Fehde-Handschuh auf und wetterte, der Abwehrkampf gegen Raubkopierer sei die wichtigste Schlacht der nächsten Jahre. Damit gab er das Leitmotiv der ganzen Veranstaltung vor. Bereits 60 Prozent aller deutschsprachigen Ebook-Inhalte würden illegal heruntergeladen, verkündete er. Für mich Grund genug, dem neuen Medium weiterhin skeptisch gegenüberzustehen.
»Als nächstes«, so die Messe-FAZ, »hielt Boos [, der Direktor der Buchmesse,] seine Lobrede auf das ›social reading‹ im Internet: Im lebendigen Austausch werde hier Literatur konsumiert. Wir hätten eine Situation vor uns, wie sie zuletzt zu den Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts geführt habe, als man sich zusammenschloß, um gemeinsam zu rezipieren. Warum aber mußte Boos – völlig grundlos – den Piraten trotzdem ein ungeheures Argument vor die Füße kullern? Lesegesellschaften, sagte er, seien ›Zweckgemeinschaften‹ gewesen, ›weil Bücher doch zunächst sehr teuer waren‹.«
Anschließend verbreitete Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth Platitüden, versprach gar unklugerweise, alle Islandsagas zu lesen, tausende von Seiten (»Versprochen ist leider versprochen – suche Partner (ausdauernd) zum gemeinsamen Lesen von Islandsagas, 4000 Seiten« fingierte die Messe-FAZ tags darauf eine Kleinanzeige), und der stellvertretende hessische Ministerpräsident Hahn »pries beherzt den Flughafen und die Autobahnknoten jener Stadt an, in welcher ›der Geist Goethes, aber auch viele andere, äh, sprüht‹.« Danach lieferten sich ein isländischer Schriftsteller und der isländische Staatspräsident »einen Wettstreit um die wortreichste Lobhudelei Islands als Hort des geschriebenen Wortes.« Für mich eine Erholungspause, denn ich hatte auf Übersetzungs-Kopfhörer verzichtet und konnte mich am Klang des Isländischen erbauen. Das taten übrigens vor Monaten auch die Besucher eines Berliner Kinos, die vor dem isländischen Botschafter und seiner Frau saßen, und als sie auf ihre Frage hin die Auskunft bekamen, bei der rätselhaften Sprache handle es sich um Isländisch, reagierten sie verblüffte: »Ja, können Sie sich denn so einen Kinobesuch überhaupt noch leisten?« Immerhin weiß seit der Finanzkrise jeder, wo Island ist, während die Insel in den 70er Jahren noch diplomatisch intervenieren mußte, um auch nur auf der ARD-Wetterkarte verzeichnet zu werden.
In der Tat mußten die Isländer sich nach der Decke strecken, um diese Verpflichtung, Partnerland der Buchmesse zu sein, mit Leben zu erfüllen; sie haben sich mächtig ins Zeug gelegt und viel geschafft: »Daß Island ungefähr die Einwohnerzahl von Bielefeld hat (...), wird seit zwei Wochen bei sämtlichen Islandkulturereigniseröffnungen vorgetragen. Trotz der paar Leute hat das kleine Land es mit vereinten Kräften geschafft, das bevölkerungsreichere Frankfurt mit einer Kulturkruste aus müffelndem Eishai, Wollpullovern und dickleibigen Büchern zu überziehen, auf deren Seiten sich Bauern auf möglichst interessante Weise erschlagen.« (Messe-FAZ)
Und dann kam der Utanríkisráđherra Þýskalands zu Worte, der »Außenreichsratsherr Deutschlands«, wie die Isländer in ihrer Vermeidung von Latinismen sagen, also Deutschlands Außenminister Gídó Vesturöld, äh, Guido Westerwelle. Von ihm kam, wie von allen Rettungs-Europäern, das rituelle Bekenntnis zu Europa, »gerade in Zeiten, wo es bestritten wird«. Damit das Bekenntnis nicht gar zu lang ausfiel, »bollerte« der Minister schon bald seinen Schlußsatz: »›Nicht nur die Isländer hat die Krise durchgeschüttelt‹, sagte er und erwies sich einmal mehr als Meister der Kunstpause, ›sondern auch … manchen anderen. Ich weiß auch nicht, warum ich das jetzt hier in Frankfurt sage.‹ Wir wissen es auch nicht.« (Messe-FAZ)
Dann war alles vorbei, wir mußten noch ein wenig sitzen bleiben, bis die Ehrengäste gegangen waren, ich hielt Ausschau nach dem »Herrscher von Scha-Scha«, erblickte aber weder diesen noch eventuelle tiefverschleierte Frauen in seinem Schlepptau, war ein wenig enttäuscht und erhob mich schließlich auch.
Am Sonntagnachmittag fand im »Saal Harmonie« die Prämierung der besten Costume Player statt, ein, zwei Stunden später sogar ein Lolita-Wettbewerb. Das waren sicher nettere Veranstaltungen.
Als ich nach über drei Stunden gegen 18.45 Uhr wieder an unserem Stand war, hatten die Charonesen sich schon in den Feierabend zurückgezogen, hatten nur eine Mobilfunknummer für dringende Fälle zurückgelassen. Die »bookfactory« kam dagegen gerade erst, jene Druckerei, die vor Monaten mein »2 x Frankfurt«-Buch gedruckt hatte. Schräg gegenüber von uns nahm sie den Stand ein, den 2010 ein Hersteller teurer Kunstdrucke innegehabt hatte, dessen schwerer, ausladender Kunstdruck-Ständer immer in den Gang hineingeragt hatte.
Nach rund einer weiteren Stunde Arbeit – Einlegen von Werbehinweisen auf meine Lesung in die Verlagsprospekte – war alles fertig. Ich packte einige der mit Geschenkband zusammengeschnürten Päckchen mit Auslauftiteln in Stofftüten, ging raus zur S-Bahn und fuhr dort zum Bahnhof Ostendstraße, ganz so, als wohnte ich in Sachsenhausen und nicht in Höchst. Ausgang Ostendstraße. Ich fand mich nicht zurecht, ging wieder in die S-Bahn-Station und verließ sie an ihrem anderen Ende (»Hanauer Landstraße«). Erst mal ein saftiges, großes Steak in derselben Sportkneipe wie 2010, dann weiter zur Venusberg-Bar, die Bücherpakete abliefern. Der Initiator des Ganzen, Herr Engel, der mit dem »Sudfaß«-Puff (so die korrekte Schreibweise, nicht »Südfaß«) das Geld für diese Erotika-Sammlung und diese Bar verdient hatte, war auch da, spendierte mir ein Bier, und wir unterhielten uns mit einer Handvoll Gästen ganz nett. Ich ließ meine Bücherpakete da und trollte mich nach ein, zwei Stunden wieder zur S-Bahn, fuhr bis Galluswarte und von dort mit der Straßenbahn 11 bis nach Höchst. Ein »Irish Pub« bot sodann noch Gelegenheit, bei Strong Bow Cider und Kilkenny die Probleme von Gleitsichtbrillen zu erörtern ...
Gegen Mitternacht spazierte ich wieder zu meinem Hotelschiff

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