25.3.11

5. Tag: Santiago de ComposteIa - Muxia (Di, 4.1.2011) - Tresen-Thesen

Gegen Morgen schien es sich ausgeregnet zu haben. Das Rauschen des Regens hatte aufgehört, das Kreischen der Möwen war geblieben. Früh schon war ich wach, schmökerte im Reiseführer, pennte wieder ein, zog mich schließlich an und ging um neun in den Frühstücksraum, wo ein für südliche Verhältnisse reichhaltiges Büffet auf die Gäste wartete: »Es gibt sogar Schwarzbrot!« lobte ein deutscher Gast. (Er meinte Vollkornbrot. Schätzungsweise zwei Drittel der wenigen Gäste waren Deutsche).

Ich aß mich richtig satt, zog mich wieder in mein Zimmer zurück, döste noch ein wenig, duschte, räumte alles zusammen und verließ mit meinem Gepäck das Hotel. Zehn Minuten Fußmarsch westwärts, und ich war bei meinem Wagen. Gepäck verstaut und dann zwischen zwei Häusern hindurchgegangen - und gleich war ich im Grünen, wo »im dunklen Laub glühten die Goldorangen« wie bei uns die Apfel- und Kirschbäume und wo man meinte, auf dem Dorf zu sein und nicht in Santiago - die Kirche fast zum Greifen nah, als stünde sie in ländlicher Umgebung ... Auch die lückenlose Häuserreihe der Straße, an der mein Hotel stand, täuschte Urbanität nur vor: Gleich hinter den Häusern begann das Grüne, es gab da nur keine Fußwege zwischen den Häusern hindurch wie hier, nahe meinem Parkplatz. Die Vögel zwitscherten, es war frühlingshaft mild. Ich dachte an den Winter in Deutschland und wünschte mir, immer hier im milden Wetter zu leben ...

Ich ging wieder zur Straße zurück und ostwärts Richtung Altstadt. Ohne Schirm. Das Wetter wird wohl halten, dachte ich. Eine Frau führte einen Bullterrier aus, der auf den Gehweg schiß und mich anschließend drohend anknurrte. Er muß meine Antipathie gespürt haben.

Nach 20 Minuten Spaziergang hatte ich den Dom erreicht. Diesmal machte ich alles so, wie es die meisten Pilger machen: die Statue des Apostels von hinten umarmen, hinuntergehen in die Krypta zur (wahrscheinlich falschen) Reliquie - zwei weißgekleidete Mönche sprachen hier eine Messe -, spenden und für meine Anliegen und die meiner Freunde beten ... Das Spenden war inzwischen weiter modernisiert worden: Noch immer konnte man (wie ich es tat) Münzen einwerfen und damit elektrische Kerzen aufleuchten lassen, doch gab es mittlerweile auch Flachbildschirme mit Bildern brennender Kerzen darauf. »Willst du spenden, dann sende folgende SMS an die und die Adresse ...« - und dann leuchteten Kerzen auf dem Bildschirm auf. Gebührenpflichtig.

Als ich auf der Ostseite des Doms die seit wenigen Tagen wieder geschlossene Heilige Pforte des Doms fotografierte, kam die Sonne wieder hervor - ein gutes Omen, hoffe ich.

Immer noch kreischten die Möwen, drei Dutzend Kilometer vom Atlantik entfernt, und immer noch (oder schon wieder) ertönte das Spiel des Dudelsackpfeifers in dem Torbogen nahe dem Dom. Ich legte ihm zwei Euro in seinen Koffer, während ich gemächlich westwärts Richtung Auto schlenderte, weg vom Dom.

Noch einmal kurz abhängen in der Kneipe, wo ich tags zuvor den Tintenfisch gegessen hatte. Es gab als Tapa sogar winzige Suppenteller mit Linsen-und-Wurst-Eintopf.

Weiterschlendern zum Auto. Es war 13.45 Uhr, als ich Abschied nahm von der Pilgerstadt. Weit war es laut Stadtplan nicht sein bis zur Straße nach Noia, am Atlantik - aber dann verfranzte ich mich doch im Universitätsviertel südwestlich von meinem Parkplatz und mußte ziemlich herumkurven, bis ich sie endlich fand. Sie führte über 30 Kilometer weit durch dichtbesiedeltes, etwas langweiliges Land und dichten Verkehr, bis ich endlich die Atlantikküste erreicht hatte.

Abbiegen nach Westen, Richtung Kap Finisterre. Efeuumrankte Palmen in Gärten baufälliger Villen, die zum Verkauf stehen.

In Serra de Outes bog ich landeinwärts ab, nach Nordwesten, auf jener kurvigen, wunderschönen Straße, deren Schönheit ich schon 2009 (damals bergab fahrend) bewundert hatte. Ein Hund lag in einer Kurve träge auf der Straße und dachte gar nicht daran aufzustehen, als ich hupte. Ich mußte ihn umkurven.

Über mitunter öde, teilweise bewaldete, mit Windrädern versehene Hochflächen fuhr ich weiter westwärts.

Auf der Hochfläche der Ort Dumbria. Auf einmal passierte ich wieder die Jakobsmuschel am Wegrand: Der von Santiago durchs Landesinnere westwärts führende Jakobsweg ging hier durch den Ort und gabelte sich irgendwo westwärts - der südliche Ast ging zum Kap Finisterre, der nördliche endete im Hafenstädtchen Muxia.

Knapp westlich von Dumbria bog ich auf die Hauptstraße Kap Finisterre - La Coruña ein: nach Norden. Und wenige Kilometer darauf nach wieder ab: nach Westen. Kap Touriñan war mein Ziel, der westlichste Punkt Spaniens, noch ein Tick westlicher als das Kap Finisterre, aber kein so spektakulärer Felsen wie das »Ende der Welt« und daher lange Zeit nicht so beachtet.

Meine vierhunderttausender Karte kannte viele der winzigen Ortschaften und viele der winzigen, oft holprigen Straßen zwischen ihnen nicht - bald tastete ich mich auf gut Glück westwärts voran, auf die Wegweiser vertrauend.

Etliche alte Bruchbuden standen in den Dörfern »zum Verkauf«, ich passierte Eukalyptus- und Kiefernwälder, mal hochstämmig, mal niedrig, Sonne und Regen wechselten sich ab, Hunde fläzten mal auf der Straße, mal rannten sie mit dem Auto mit, es gab etwa zehn Kilometer vor dem Kap ein »Café Bar aléman« - ich hielt aber nicht an.

Kurz vor dem Kap offenes Land, Steinwälle umgaben die Felder und die Weiden für das Vieh, wie man von Fotos aus Irland kennt. Am Kap war der Wind schwach, der Himmel grau. Der Blick ging bis fast zum Kap Finisterre im Süden und bis Camariñas im Norden.

Westlicher geht´s nimmer: Kap Touriñán an der »Costa da Morte«, auch wenn sie momentan friedlich aussieht am 20.3.2009 (Bild: Wikipedia; einige Tage später war ich in Camariñas, aber nicht am Kap Touriñán)

Auf lauschigen, kurvigen Sträßchen ging es anschließend im 30-Kilometer-Tempo nordwärts, durch Wälder, über Hügel vorbei an Gehöften und winzigen Dörfchen, oft mit Meerblick, bis ich endlich kurz vor Muxia wieder auf eine größere Straße einbog, geziert mit der Jakobsmuschel: ein »Ast« des Jakobsweg endet in Muxia (sprich: »Muchia«).

In dem Städtchen geriet ich irgendwie von der Hauptstraße ab und fand mich unversehens in den spanientypisch sehr engen Altstadtgassen wieder. Warten mußte ich, bis die Trauergemeinde sich aufgelöst hatte, bis der Priester in vollem Ornat sich in das Auto gesetzt hatte, das vor mir das enge Gäßchen blockierte, dann erst ging es weiter.

Endlich gelang es mir, wieder zur breiten Hauptstraße und Hafenpromenade zu gelangen. Sie endete am Westrand des Städtchens, am Atlantik, an einer auf Felsen gelegenen Kirche. Ich erinnerte mich zwar dunkel daran, daß die Kirche im Baedeker als »bedeutendes Heiligtum« gewürdigt wurde, aber welche Bedeutung sie wirklich hat, das las ich erst jetzt, wieder zu Hause. Sie steht nämlich an der Stelle, an der (nach einer der Legenden) das Boot mit dem Leichnam des heiligen Jakob an die Gestande Galiciens gespült sein soll. (Hätte ich mir eigentlich denken können - warum sollte ein Ast des Jakobswegs in Muxia enden, wenn nicht etwas diesbezüglich Bedeutsames dort wäre?). »Nuestra Señora de la Barca«, Unsere liebe Frau von der Barke, heißt das Heiligtum treffend.

Morgensonne im Juni: Die Kirche wird von Osten beleuchtet.

Ganz schön felsig, wo der hl. Jakob angespült worden sein soll ...

Ich warf nur einen flüchtigen Blick darauf und fuhr dann die Hauptstraße zurück bis zu einem Hotel, das innen zwar muffig roch, aber für 39 Euro ein Nachtquartier mit Frühstück bot und einen deutschsprechenden, weil in Deutschland gewesenen Wirt, sowie einen Blick nordwärts aufs Meer. Wenn man das Fenster einen Spalt breit offen ließ, war auch der muffige Geruch weg ... Es war sechs Uhr abends.

Auf der Hauptstraße, der Strandpromenade (an der mein Hotel lag), gab es nicht nur eine Kooperative der Klöpplerinnen (offenbar ein traditionelles Gewerbe hier in der Gegend), sondern auch eine Kneipe neben der anderen, darunter auch wieder eine mit Seemannsknoten unter Glas.

Für neun Euro aß ich mich satt mit Pommes, Brot, Fleisch und zwei Bier, danach tingelte ich durch die Bars und Kneipen. In Tübingen sitzen meine Freunde jetzt beim Stammtisch »Unser Huhn« und entwickeln ihre Thesen, dachte ich. Da sollte ich jetzt auch meine eigenen Tresen-Thesen entwickeln.

Wie wäre es denn nun damit, immer hier zu leben, fern von Kälte und Schnee und trotzdem in mitteleuropäisch grüner Landschaft?

Die Idee ist ja nicht neu. Aber trägt sie allein?

»Wäre längst ein Mönch geworden, wäre längst ein Mönch geworden, wären nicht die Frau-ha-hauen, die Frau-au-au-eeeeeen!« sangen wir einst im gymnasialen Kammerchor ein etwas albernes Schubertlied. Ich dachte mir damals schon: Wenn das der einzige Grund ist, Mönch zu werden, dann ist das ein bißchen wenig ...

Klimatisches Asyl wolle er manchmal gern in Kalifornien beantragen, schrieb ein Moskauer, ich glaube in einem MERIAN-Heft, in den frühen 80er Jahren. Von politischem Asyl wagte er damals noch nicht zu schreiben. Aber das Klima Moskaus ist ja allein schon ätzend, da braucht man gar nicht aufs politische Klima zurückzugreifen. Wenn es wieder mal Stein und Bein friert, der Wagen nicht startet, die Türen festfrieren, die Füße kalt sind - dann wolle er klimatisches Asyl in Kalifornien beantragen. Aber reicht das allein als Lebensgrundlage, vorausgesetzt, dem »Asylantrag« wird überhaupt stattgegeben?

In der EU braucht man sich darum nicht zu sorgen, da kann man hinziehen, wohin man will. Die Tschernobyl-Flüchtlinge bewiesen es schon vor 25 Jahren, zwei Jahre nach dem Beitritt Spaniens zur damaligen EG. Manch überspannte Kernkraftgegner packten 1986 ihre Kinder ins Auto und entflohen nach Spanien, nur weg von der Strahlung - und hinein ins Ungewisse. Oder nein: ins allzu Gewisse. Denn es trat ein, was man erwarten konnte: Sprachunkundig und auch sonst unvorbereitet, kamen die schnellentschlossenen Auswanderer in Spanien nicht zurecht, packten den Schulabschluß nicht, fanden nur miese Aushilfsjobs. Die hastige Auswanderung hatte fast nur Nachteile. Manch eines der erwachsen gewordenen Kinder dürfte den Entschluß der Eltern inzwischen hassen, blickt es doch auf einen geknickten Lebenslauf, auf ein gescheitertes Leben zurück.

Selbst für die Einheimischen scheint’s in Muxia nicht ganz einfach zu sein – wieso sonst wäre in dem Städtchen (wie in so manchen Galiciens) die Einwohnerzahl von 6700 im Jahre 1991 auf 5400 im Jahre 2010 zurückgegangen?

Aus dem »Notizbuch« des konservativen Journalisten Johannes Gross, 1986: »Der Schauspieler Heinz Rühmann war vor einigen Jahren an die Côte d'Azur gezogen, des angenehmen Lebens, des freundlichen Wetters wegen. Doch wollte sich das rechte Wohlbefinden auf Dauer nicht einfinden. Es fehlte ihm, wie er sich gegenüber einem Freund ausdrückte, der heimische und gewohnte ›Kulturkreis‹, Theater, Fernsehen, die verläßliche Buchhandlung; während es im Süden doch arg französisch zugeht. Es störte ihn auch, was ich als das ›Kampen-Syndrom‹kenne - man trifft an den schönen Plätzen exakt die Leute, denen man das ganze Jahr sorgsam aus dem Wege geht. Er kehrte also ins Münchnerische zurück; doch begann ihm nun das nördliche Wetter stark zuzusetzen, die Abscheulichkeit des Klimas wollte über die Heimeligkeit des Kulturkreises obsiegen. Eine Dreiecksgeschichte; Rühmann weiß, wie man sie auflöst.«


Ja - aber mir hat er's leider nicht verraten, dachte ich bedauernd, als ich in Richtung Hotel spazierte und die selbst im Januar fast laue Nachtluft genoß. Bewußt war ich im Januar gereist. Norwegen nur im Juli besucht zu haben, das sei so, als habe man Roald Amundsen nur im Frack auf irgendwelchen Empfängen kennengelernt, behauptete mal jemand. Stimmt - man sollte ein Land in seiner garstigsten Jahreszeit gesehen haben, wenn man daran denkt, sich dort niederzulassen ...

Aber vorerst war gar nichts garstig. Man konnte bei leicht geöffnetem Fenster unter ziemlich dünner Decke schlafen und sich vom leichten Rauschen der auf den Strand rollenden Wellen in den Schlaf wiegen lassen ...

Blick von Muxia an der »Costa da Morte« entlang nach Süden, Richtung Finisterre

Keine Kommentare:

Donald und Kamala, die Lovestory :-)

Sind sie nicht süß? Und Klein-Donald erst, der aus dem Bauch herauskommt! So, jetzt muß ich mal gucken, wie ich das aus FB 'runterkrieg...