23.1.11

Raus aus dem Polar-Expreß – ich bin dann mal wieder weg! – Galicien 2010/11: 1. Tag: Nehren – Montélimar (31.12.2010)

Das hat man nun davon! Da vertraut man auf den Klimawandel und auf einen milden Winter, läßt wie eh und je, nur jetzt gesetzwidrig die Sommerreifen drauf und tankt den Öltank des Hauses nur zweidrittelvoll – und dann das: »Schuld ist der Polar-Express«, verkündete ein Meteorologe in der Sonntags-FAZ vom 19. Dezember, und man kann sich seine vor Begeisterung eisblau aufleuchtenden Augen vorstellen: »Die Wetterlage in dieser Woche war mehr als außergewöhnlich. (...) Der Polar-Express (...) ist jetzt tatsächlich quer durch Europa gerauscht. Eine derartige Konstellation der steuernden Hochs und Tiefs habe ich noch nie gesehen. Allein der Luftdruck über Grönland mit 1080 Hektopascal [früher nannte man das Millibar – ein extremes Hochdruckgebiet. R. H.] ist denkwürdig. Den Wert muss man auf dem Barometer erst mal finden. [Interviewer:] Was hat das für Folgen? [Meteorologe:] Da müssen Sie sich nur an den Donnerstag erinnern. Die Front, die sich aufgrund der ungewöhnlichen Druckunterschiede gebildet hatte, war die reinste Schneewalze und zog von Norden nach Süden. Einige Gegenden sind tief im Schnee versunken, selbst im Flachland. Das öffentliche Leben stand zeitweise still. In Island etwa sackte die Temperatur innerhalb von anderthalb Tagen um 26 Grad in den Keller. In Deutschland [ist] der Dezember (...) bisher im Schnitt um vier Grad zu kalt. (...) Schuld an der gegenwärtigen Kältewelle ist eine gestörte Zirkulation. Die Strömung steht kopf. Normalerweise ziehen in regelmäßigen Abständen Tiefs mit milder Luft im Gepäck vom Atlantik nach Europa. Seit September 2008 jedoch ist der Atlantik häufig wie im Tiefschlaf. Dort, wo eigentlich das Islandtief liegt, hat sich in den vergangenen Wochen erneut ein riesiges Hoch aufgebläht, das alle Tiefdruckgebiete, die von Westen kommen, niederringt und somit die Warmluft blockt. Extrem kalte Wetterlagen, die sich regelmäßig erneuern, sind die Folge. [Zu den Ursachen:] Dass aber ein versiegender Golfstrom dahintersteht, wie manche schon behaupten, halte ich für unwahrscheinlich.«
Na, Gott sei Dank! Trotzdem: Höchste Eisenbahn, dem Polarexpreß zu entfliehen in jene Gegenden, in denen Golfstrom noch wirklich was zu sagen hat!
Am Ersten Weihnachtstag wollte ich weg. Das Schneechaos hielt mich zurück – ohne einen Ersatz-Schneeschaufler würde sich auf dem Gehweg vor meinem Haus womöglich jemand das Bein brechen – und ebenso unerledigter Bürokram. Wie soll man den auch erledigen, wenn von fünf Copyshops in Tübingen vier zu haben!
Ich verschob die Abreise von Tag zu Tag. Am Silvestertag war es endlich soweit: Fast etwas lustlos lud ich alles ins Auto, was ich die Tage zuvor schon zusammengetragen hatte. Noch einmal die Zimmerpflanzen in ihrem kühlen Zimmer wässern, den Schnee so weit wie möglich räumen und die Heizung auf 13 Grad herunterdrehen. Draußen wechselten sich leicht überfrierende Nässe und leichtes Tauwetter ab. Jetzt oder nie!
Ein letztes Mal beantwortete ich Mails, saß von zwölf bis eins in Bademantel und Unterwäsche am Rechner, dabei Deutschlandfunk hörend (»Informationen am Mittag«), neben mir das Abschiedsbier, frische Klamotten griffbereit.
Um 13.30 Uhr ging’s endlich los. Rauf auf die B 27 und südwärts nach Hechingen, abbiegen westwärts Richtung Autobahn, rauf auf die A 81 Richtung Schweizer Grenze. Raststätte Neckarburg bei Rottweil: Zum Abschied ein letztes Mal Linsen mit Spätzle und Saitenwürschtle. An den heißen Linsen verbrannte ich mir fast den Mund. Ein kleiner Junge vom Nebentisch schaute mich mit großen Augen ungläubig an, als mir aus Schreck darüber ein Stück Wurst auf den Boden hüpfte, von mir aufgehoben und gegessen wurde.
15.30 Uhr: Schweizer Grenze. Einige Stunden lang ist meine Schweizer Autobahnvignette noch gültig – also nur rasch volltanken und weiter.
Herum um Zürich. Es wurde langsam dunkel.
Weiter Richtung Bern. Gelegentlich zeigten rote, leuchtende Herzchen in Fenstern autobahnnaher Häuser den Reisenden den Weg zu käuflicher Lust und Liebe. Doch auch auf der Autobahn war der Verkehr sehr rege …
Seit ich im Frühjahr 2009 in Galicien gewesen war, wollte ich wieder herkommen. Vielleicht sollte ich über Weihnachten fahren und dabei zwei Nächte in diesem Parador »de los Reyes Catolicos« gegenüber der Kathedrale von Santiago verbringen? Ich hatte schon fast online gebucht, aber der Gedanke an die viele Arbeit mit den anstehenden Neuerscheinungen hielt mich zurück. Im März 2010 wollte ich mit dem Schiff von Genua nach Marokko fahren und dort mit dem Auto die Küstenstraße Nr. 1 hinunter bis ins marokkanisch besetzte Westsahara, nach Dakhla oder bis kurz vor die mauretanische Grenze, so wie die beiden Studenten, die mit ihrem alten Golf II »mal eben an den Wendekreis« fuhren und im Internet darüber berichteten. Doch der ganze Themenkreis Marokko/Westsahara wäre ein eigenes Buch und viel, viel Zeit und Muße wert – und die hatte ich nicht. So blieb ich zu Hause. Bis ich den Entschluß faßte: Zwischen Weihnachten und Dreikönig fährst du wieder nach Galicien.
Vorbei an Bern und weiter südwestwärts. Die Ortsnamen wurden französisch. Der Verkehr dünnte aus. Lausanne. Die Temperatur schien bei + 1 Grad festgestellt zu sein, alle öffentlichen Temperaturanzeigen bis nach Frankreich hinein zeigten dasselbe an.
19.30 Uhr: Hinter Genf passierte ich die französische Grenze. Mal sehen, ob ich es heute noch bis Montélimar schaffe, dachte ich. Diese Stadt hatte ich mir als Etappenziel auf der Landkarte ausgesucht: 35.000 Einwohner, »Pforte der Provence«, bereits knapp südlich des 45. Breitengrads, der Mitte zwischen Nordpol und Äquator, gelegen, dort, wo sich das Tal der unteren Rhone schon fast trichterförmig zum Mittelmeer weitet …
Vorläufig allerdings mußte ich mich mit der Strecke dorthin herumschlagen. Landschaftlich schön ist diese Autobahn Genf-Lyon, aber davon sah man in Dunkelheit nichts, stattdessen Kurven und immer wieder plötzlich dichte Nebelschwaden, die ebenso plötzlich wieder verschwanden.
Endlich blieben die Berge und der Schnee zurück. Ich näherte mich Lyon. Immer habe er bei Lyon im Stau gestanden, wenn er auf dem Weg nach Biarritz gewesen sei, erzählte mir einmal mein Freund J.. Das war allerdings schon rund 30 Jahre her; inzwischen wird man, kommt man von Genf, auf allerlei Umgehungsautobahnen östlich um Lyon herumgeleitet, vorbei an Industrie- und Supermarktarealen, Vororten, dem »Saint-Exupéry-Flughafen« und etlichen öd und standardisiert wirkenden Hotels großer Ketten (Etap, Mercur, Novotel), die mich nicht reizten. Ein gemütliches, familiengeführtes kleines Hotel in Montélimar, das wär’s doch für diese Silvesternacht, dachte ich. Es war etwa 21 Uhr. Eine halbe Stunde brauchte ich, um Lyon zu umkurven.
»St. Etienne geradeaus« las ich auf einem Wegweiser. St. Etienne – Clermont-Ferrand – Bordeaux – Hendaye – das wäre die kürzeste Route gewesen, aber ich wollte bei diesem Winterwetter nicht übers Zentralmassiv fahren, auch nicht auf der (hoffentlich geräumten) Autobahn.
Also bog ich auf die A 7 ein, die »Autoroute du Soleil«, die Hauptrennstrecke ans Mittelmeer für sonnenhungrige Pariser, Richtung Süden, Richtung Marseille. Sie war ziemlich belebt, ganz im Gegensatz zu den halbleeren Autobahnen, die hinter mir lagen.
Noch etwa 150 Kilometer bis zu meinem Etappenziel. Tankstop. An dieser Tankstelle gab es für mein Auto nur noch das brandneue »E10«. Ging aber alles gut – der Motor vertrug‘s. Sollte ich hier im Motel gleich bei der Tankstelle einchecken? Nein. Lieber weiter.
Auf Langwelle 153 kHz konnte ich leidlich den Deutschlandfunk empfangen. Kabarett und Jazz. Auch wenn ich noch kein Quartier für die Nacht hatte, fühlte ich mich entspannt und wohl. Der Kälte des Nordens war ich vorerst entflohen, entflohen nach Südwesten, von wo in Europa der Frühling kommt, von wo auch in den vergangenen Wochen die spärlichen Tauwetter-Abschnitte gekommen waren, um dann ins Deutschlands Mitte zu versacken.
Dichtbesiedeltes Land. Immer wieder warm orange beleuchtete Ortschaften und auch Städte wie Vienne und Valence, immer wieder inmitten von Gewerbeparks Hotels in Sichtweite der Autobahn. Mehrere Male kreuzte ich die Rhone oder fuhr in ihrer Sichtweite. Parallel zur Autobahn lief die alte Nationalstraße 7, die vor dem Bau der Autobahn in den 60er Jahren den französischen Touristen-Treck ans Mittelmeer bewältigt hatte – und heute vermutlich unter seiner Last zusammenbräche, gäbe es die Autobahn nicht …
Vereinzelt ließen Feierlustige schon Leuchtkugeln steigen. Ein vermutlich luftverkehrsbedingtes Blitzlicht auf einem Berg beleuchtete die Wolken unheimlich von innen.
Ich hatte Valence passiert. Es wurde langsam Zeit, irgendwo anzukommen. Sonst wäre ich beim Jahreswechsel noch unterwegs. Sollte ich auf die »Route Nationale 7« wechseln und dort in einem kleinen Kaff irgendwo ein Zimmer nehmen?
Ich unterließ es, blieb auf der Autobahn bis zur Abfahrt Montélimar-Nord, 780 Kilometer von meinem Start in Nehren entfernt.
Gleich an der Abfahrt zwei Hotels – aber ich bog links ab, nach Süden, auf die RN 7 Richtung Stadt. Doch die war noch über zehn Kilometer entfernt, und es war schon 23 Uhr durch. Als bei der Fahrt durch zwei winzige Vororte nur ein geschlossen wirkendes kleines Hotel in meinem Sinne auftauchte, drehte ich wieder um – zur Autobahnabfahrt.
»Zimmer 37 Euro« verhieß eines, hatte aber nur einen »automatischen Check-in«. »Ich kenne mich damit nicht aus – könnten Sie mir bitte helfen?« fragte ich einen Angestellten, der sich glücklicherweise in der Halle dennoch fand.
»Was heißt das, Sie kennen sich nicht aus?« muffelte er mich an, wahrscheinlich frustriert darüber, in der Silvesternacht Dienst schieben zu müssen, und führte mich zu einem Automaten außen an der Tür: »Lesen werden Sie doch wohl noch können, oder!?« In der Tat: »Geben Sie Ihre Kreditkartennummer an«, las ich dort auf deutsch auf dem Display. Ich hatte meine Kreditkarten aber mal wieder zu Hause gelassen, ich benutze sie eigentlich nur, wenn ich im Internet was bestelle ...
Also fort von diesem ungastlichen Ort! Aufs »Hotel Dacia« hatte ich aber auch keine Lust, und so fuhr ich 200 Meter weiter ins »Ibis«. Leider doppelt so teuer wie das Automatik-Hotel, aber wenigstens mit Bedienung. Im Hof standen Oleander, Zypressen und eine schlanke, vielleicht fünf Meter hohe Palme, einer jener zuverlässigen Indikatoren des Im-Süden-Angekommenseins.
Als einziger Gast setzte ich mich an die Hotelbar, machte Notizen und ließ mir vom Barkeeper und Nachtportier, der zwischendurch immer wieder ein bißchen Staub saugte oder aufräumte, ein großes »Kronenbourg« vom Faß nach dem anderen servieren.
Kurz vor Mitternacht ging ich kurz raus vor die Tür in die angenehm laue Nachtluft, aber Feuerwerk war nicht zu sehen, dafür war die Stadt zu weit weg; nur ein paar ferne Böller waren zu hören. Bis auf eine Handvoll Karnickel, die über die Wiese am Hotelparkplatz hoppelten, war ich ganz allein.
Ich setzte mich wieder an die Bar. Gegen ein Uhr nachts an diesem wohl merkwürdigsten Silvesterabend meines bisherigen Lebens schob ich mir mein Notizbuch in die Tasche und entdeckte beim Zahlen mit Schrecken, daß sich die Bar eine Halbe mit stolzen sechs Euro bezahlen ließ. Teures Hotel, teure Autobahnt, teure Bierchen, zweimal Tanken – kein Wunder, daß hier in Frankreich das Reisegeld schneller den Bach runtergeht, als das Rhonewasser das Mittelmeer erreicht, dachte ich. Aber was soll’s – man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Hauptsache, ich bin aus der Kälte weg ...

Im Süden angekommen! Die Rhone bei Montélimar. Hier das Bild in voller Pracht.

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Ja, nicht die kleinen Tassen sind gemeint, sondern die lieben Kleinen. Bis 1956 waren - siehe links - Cidre, Bier und Wein in französischen ...