1.5.11

6. Tag der Galicienreise: Muxia - Cedeira (Mi, 5.1.2011) - Tresen-Thesen II

Um 9 Uhr morgens war es noch halb dunkel, die gelben Straßenlampen brannten noch. Auch später blieb es grau in grau und regennaß, die angekündigte nächste Wetterfront war da. Frühstück unten nahe der Rezeption, wie üblich ein dürftiges, Kaffee und Hörnchen und Marmelade. Der Fernseher lief, die Heizung – im Gegensatz zu meinem Zimmer oben – nicht, der Fliesenboden war kalt, insgesamt war es ungemütlich.
Wind aus Südwest bis West und Temperaturen von 15 bis 18 Grad an der Küste, um 14 Grad in Santiago sagte der Wetterbericht voraus. Das war selbst für hiesige Gegenden sehr mild – und Mitteleuropa war noch immer ein Eiskeller. Die atlantischen Regenfronten rannten von Westen gegen ihn an und zerschellten an dem mächtigen Hoch, das Deutschland immer noch in seinem eisigen Griff hielt. (Später las ich irgendwo, der Klimawandel sorge für ein Abtauen der Barentssee nördlich von Murmansk, und dadurch rauschten die schneebringenden Kaltfronten noch ungebremster nach Mitteleuropa runter – so findet das kalte Wetter immer einen Grund, uns zu belästigen.)
Ich umkurvte die Ría, erreichte gegen Mittag Camariñas an ihrem Nordufer. Der Regen verzog sich vorübergehend, die Sonne zeigte sich etwas, es briste auf, die Wellen auf der Ría zeigten weiße Schaumkronen.
In Camariñas war gerade Jahrmarkt. Aus einem Lautsprecher tönten nicht nur Schnulzen, sondern auch »I'm dreaming of a white christmas«, was bei diesem milden Atlantikwetter völlig deplaziert und doch auch wieder passend wirkte: Hier kennt man Schnee (fast) nur vom Hörensagen.
Nach einer Paella und zwei kleinen Bier setzte ich mich wieder ins Auto. Hinaus bis (fast) zum Leuchtturm – aber dann bog ich rechts ab und umrundete auf einer asphaltlosen Straße die – mal kahle und felsige, mal bewaldete – Halbinsel. Manchmal wirkte die Landschaft mehr wie Irland oder Island als wie Spanien.
Nach rund zehn Kilometern hatte ich wieder Asphalt unter den Reifen. Ich passierte Arou, einen niedlichen kleinen Fischerort mit enggedrängt stehenden Holzhäusern. Wenig später bog ich südlich von Camelle auf die Straße nach Süden ein und schwenkte wenige Kilometer weiter nach Osten, dann nach Nordosten.
Auf zumeist malerischen und mitunter schlechten Sträßchen fuhr ich weiter die Küste entlang nordostwärts – allerdings nur selten in Sichtweite des Meeres. Mal pladderte der Regen, dann hörte es wieder auf, dann nieselte es. Ich schaltete den Scheibenwischer wohl hundertmal ein und wieder aus. Auf den »malerischen Fischerort Corme« (Reiseführer), eng zusammengebaut in einem Tal, hatte ich schon keine Lust mehr, denn das hätte einen Abstecher bedeutet, und mich zog's jetzt nordwärts. Nur bei dem Städtchen Malpica machte ich noch einmal einen Abstecher an die Küste, auf einen Aussichtsberg.
Von Malpica aus wandte ich mich ostwärts, landeinwärts, und rund ein Dutzend Kilometer weiter schließlich auf die Autobahn nach La Coruña.
Auf der kurzen Strecke bis dorthin mußte ich zweimal Kleckerbeträge an Zahlhäuschen zahlen – einmal poplige 50 Cent. Sind diese Autobahnen sozial gedachte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen? fragte ich mich. Der Lohn der Kassiererin dürfte die Einnahmen überschreiten.
Auf einmal hatte ich den Stadtrand von La Coruña erreicht, die Autobahn ging in eine normale Straße über. Und was jetzt? Geradeaus ging's ins Zentrum, da wollte ich nicht hin, nach rechts auf die Avenida x und die Avenida y und die Avenida z aber auch nicht. Ich wollte weiter nach Ferrol, um die Bucht herum nach Norden. Doch nirgendwo war ein Hinweis auf Ferrol zu sehen.
Auf gut Glück bog ich rechts in Richtung dieser »Avenidas« ab, zumal ich mich zu erinnern glaubte, daß auf der Landkarte die Autobahn Richtung Ferrol ein Stück weit ostwärts (also rechts) von dem Autobahnende lag, das ich hinter mir hatte. Ein paar hundert Meter weit ging's im Stop-and-go-Verkehr (es war 16.15 Uhr an einem Mittwochnachmittag vor einem verlängerten Wochenende, denn wie ich gelesen hatte, wird der Dreikönigstag in Spanien besonders gefeiert) an scheußlichen Wohnblocks vorbei und durch eine Baustelle, dann hatte ich die Autobahn nach Santiago erreicht, und von der zweigte dann später die nach Ferrol ab.
Noch einmal mußte ich einen Kleckerbetrag zahlen, dann erreichte ich um 17 Uhr Ferrol, den alten Kriegshafen, und verließ die Autobahn nordwärts. Noch 31 km bis Cedeira, meinem Etappenziel. Das paßt.
Grünes Galicien nördlich von Cedeira
2009 hatte ich Cedeira nur im Vorüberfahren gesehen, aber es sollte ein idyllisches Städtchen an einer ebensolchen »Ría« (fjordähnliche Flußmündung) sein.
Allmählich ließ die dichte Besiedlung nach. Die Landschaft wurde schöner, grüner, waldiger. Heruntergekommene Häuser mit herrlichem Atlantikblick standen zum Verkauf.
In Cedeira stockte der Verkehr an der zentralen Straßenkreuzung wegen einer Veranstaltung. Ich wendete und nahm ein Zimmer in einem Hotel, an dem ich 500 Meter zuvor vorbeigefahren war, ein riesiges Zimmer mit gewohnt winzigem Frühstück für 50 Euro, ein Zimmer mit einem so lärmenden Kühlschrank, daß ich bei dem erst mal den Stecker zog. Aber der vom Nachbarzimmer war auch noch erschreckend laut zu hören.
Spaziergang in der Abenddämmerung. Hübsche Straßenzüge, und die Ría war auch hübsch. Wie ein kreisrunder See wirkte sie, man konnte gar keinen Ausgang zum Atlantik erkennen. Überall ringsum flammten jetzt die – meist gelblichen – Straßenlampen auf und die Lichter in den Häusern, alles war in voller Klarheit zu sehen, die Luft war mild.
Das Flüßchen, das in die Ría einmündete, war nur ein Bach. Bei Flut war er offensichtlich 20 Meter breit, das verrieten die Brücken und die Kajütboote, die jetzt, bei Ebbe, auf dem Trockenen lagen.
Viele Leute waren unterwegs, es war ja auch der Abend vor einem Feiertag. Es war gar nicht so leicht, die richtige Bar zu finden, mal war's zu voll, mal müffelte es unangenehm … Endlich blieb ich in der »Bar Uruguay« hängen, in der es nicht nur Bier, sondern auch leckere Tapas gab, Baguettescheibchen mit Wurst oder Käse. Das Fernsehprogramm wechselte bald von der Schilderung der morgigen Dreikönigsfeiern zu König Fußball. Zeit, mich mal wieder an meine Tresen-Thesen zu machen.
Wie wunderbar mild ist hier das Wetter – wär's nicht toll, hier zu leben und gelegentlich segeln zu gehen? Muß ja nicht gleich die »Costa da Morte« sein …
Romantische Gedanken. Aber lebte ich hier und müßte ich mir hier eine Existenz aufbauen, bliebe mir wahrscheinlich gar keine Zeit mehr zum Segeln.
Wie war das nun mit dem »klimatischen Asyl«? Der »Wetterflüchtling« sollte sich schon genau überlegen, wohin er zieht. Denn was bringt es, wenn man von einer Gegend, in der man sich die meiste Zeit in geheizten Räumen aufhalten muß, in eine Gegend zieht, in der man sich die meiste Zeit über in klimatisierten Räumen aufhalten muß?
Die Tropen scheiden also schon mal aus. Auf den niederländischen Antillen sah ich Villen, die irgendwelchen Ausländern gehörten: Herrliche grüne Palmengärten, wohlgepflegter, sattgrüner Rasen, tolle tropische Blumen – aber kein Mensch zu sehen. Und das nicht nur, weil die Besitzer wohl gerade nicht da waren. Nein – hätte man in diesen herrlichen Gärten beim Grillen oder mit Kaffee und Kuchen sitzen wollen, der Schweiß wäre einem in Bächen heruntergelaufen, so schwülheiß war’s. Schlafen, Arbeiten, Sport treiben, Denken – alles qualvoll ohne Klimaanlage.
Das sollte man sich vorher gut überlegen. Tun viele aber offenbar nicht – z. B. nicht die Millionen von Binnenmigranten in den USA, die von den kalten Nordstaaten in den heißen Süden ziehen. Denen unterstellt »Regimekritiker« Michael Moore, daß sie schon von Anfang an einen Sonnenstich haben, denn anstatt frischen, liberalen Geist in den Süden zu bringen, lassen Sie sich von der dort herrschenden muffig-spießigen Bible-belt-Mentalität infizieren: »Vor der Erfindung der Klimaanlage waren Florida und der übrige Süden nur dünn besiedelt. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit waren unerträglich. Ich meine, man kann sich bei 37 Grad in Texas kaum bewegen. In New Orleans ist die feuchte und heiße Luft so stickig, daß man kaum atmen kann. Kein Wunder, daß die Leute im Süden mit einem so unverständlich schleppenden Akzent sprechen. Es war einfach zu heiß, um anständige Vokale und Konsonanten zu bilden. Meiner Ansicht nach ist diese brutale, lähmende Hitze auch der Grund dafür, daß aus dem Süden nie irgendwelche großen Erfindungen, neuen Ideen oder Beiträge kamen, die unsere Zivilisation voranbrachten (mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen [wie] William Faulkner ...). Wer kann bei dieser Hitze denken, geschweige denn lesen?
Dann wurde die Klimaanlage erfunden – und plötzlich konnte man es im Süden zu etwas bringen. Wolkenkratzer schossen in die Höhe – und die Nordstaatler, die genug vom Winter hatten, kamen in hellen Scharen. Sie stellten fest, daß man in seinem Auto mit Klimaanlage zur Arbeit fahren, den ganzen Tag in seinem Büro mit Klimaanlage arbeiten oder stundenlang im College mit Klimaanlage studieren kann. Abends kehrte man in sein von der Klimaanlage gekühltes Haus zurück und plante, wo man am Wochenende ein Kreuz in Brand steckte oder ein Barbecue mit dem Ku-Klux-Klan veranstaltete.
Ohne daß wir es merkten, hat sich der Süden erhoben und kontrolliert nun das Land. Die konservative Ideologie, die ursprünglich aus dem konföderierten Süden stammt, hat die Nation fest im Griff. Man verlangt, daß die Zehn Gebote öffentlich ausgehängt werden, die Evolutionstheorie wird geleugnet, in den Schulen soll gebetet werden, Bücher werden verboten, der Haß gegen die Bundesregierung im Norden wird geschürt, soziale und staatliche Einrichtungen sollen abgebaut werden, man lechzt danach, sich jederzeit in einen Krieg zu stürzen, und will jedes Problem mit Gewalt lösen – das alles sind Kennzeichen der gewählten Volksvertreter aus dem ›Neuen‹ Süden« – der in Wahrheit der uralte Süden sei, so Michael Moore. Mit dem Versprechen von 24 Grad Durchschnittstemperatur habe der alte Süden die Zuwanderer aus dem Norden angelockt und die Nachteile vergessen lassen … Eine neue Volkszählung in den USA bestätige das erneut gewachsene Gewicht des Südens, las ich Tage später, schon auf dem Heimweg, in einer Kneipe in einer spanischen Zeitung: Da haben wir’s wieder …
Soll man sich so was antun, so eine geistige Verschlammung? Natürlich nicht, werden jetzt viele sagen: »Unter Palmen werde ich mich so richtig befreit vorkommen!«
Auch frei von einem Job? Viele scheinen zu denken, unter Palmen wäre das Leben und Geldverdienen so leicht und locker wie das Wetter. Aber die meisten südlichen Länder sind arme Länder. »Die guten Jobs hier sind nur für Einheimische, als Fremder ohne Beziehungen hat man keine Chance«, sagten mir Deutsche, die seit etlichen Jahren den Winter in Sevilla verbrachten, den Sommer aber an der Ostsee mit einem Saisongeschäft. Hätten sie ihre Brötchen in Sevilla verdienen müssen, hätten sie ein Problem gehabt … Was aber etliche Aussteiger nicht daran hindert, Deutschland spontan davonzulaufen. Eine Reportage im »Stern« berichtete Monate nach meinem ersten Sevilla-Besuch 2001 davon: Sogar eine Polizistin aus Tübingen oder Reutlingen war’s, die das gesicherte Beamtendasein sausenließ für die Flamencokleiderläden und das Tapa-Hopping in Sevilla. So, wie sie es im Urlaub kurz zuvor erlebt hatte. Als wäre das Leben ausgerechnet im einst (und z. T. noch immer) armen Andalusien eine immerwährende Fiesta! Warum kommen wohl so viele Gastarbeiter aus Andalusien oder Sizilien nach Mittel- und Nordeuropa? Inzwischen dürfte wohl das böse Erwachen gekommen sein. Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang … Kaum noch zu zählen die Fernsehsendungen über Auswanderer, die mit Rosinen im Kopf losziehen und dann elend scheitern …
4,1 Millionen Arbeitslose habe Spanien jetzt offiziell, tönte es aus dem Fernseher, als ich gestern in Muxia in einer Kneipe saß. Umgerechnet auf Deutschlands doppelt so große Bevölkerung wären das 8,2 Millionen Arbeitslose – ein Drittel mehr als während der Weltwirtschaftskrise von 1932, die uns bekanntlich einen Hitler beschert hat. Ich möchte nicht wissen, was bei uns los wäre, hätten wir 8,2 Millionen Arbeitslose. Die Spanier ertragen es relativ geduldig. Stets war die Arbeitslosigkeit in Spanien höher gewesen als in anderen EU-Ländern, und das strukturschwache Galicien hat jetzt eine offizielle Arbeitslosenquote von über 20 Prozent – das Mecklenburg-Vorpommern Spaniens sozusagen, nur mit besserem Wetter. Auf selbstverwirklichungssüchtige Ausländer haben die Leute hier gerade noch gewartet. Kein Wunder, daß die Einwohnerzahlen vieler Orte zurückgehen – auch wie im Osten Deutschlands. Nur Leute mit besonderen, guten Konzepten haben eine Chance in solchen Gegenden.
Und ein »Netzwerk« muß man haben. Als Einzelkämpfer wird man untergehen. Man geht entweder mit Familie ’runter, oder man ist doppelt so eifrig beim Schaffen eines »Netzwerks« (das aber auch mit Familie nötig ist). Kennen Sie dieses dämliche neue Modewort? Früher hatte man einen Bekannten- und Freundeskreis, heute hat man ein »Netzwerk«. Oder ist »Netzwerk« ein Euphemismus für »Klüngel«, »Clique«, »Seilschaft«, »Vitamin B«? Und das alles muß man sich dann in einer fremden Sprache schaffen, ebenso Behördengänge, Miet- und Kaufverträge … Manch einer ist da schon aus Wut über bürokratische Hürden hochgegangen wie einst das HB-Männchen.
Und trotz des mitteleuropäisch grünen Äußeren der Landschaft ist eben doch manches – fremdartig. Wenn ich von den trotz des vielen Regens häufigen Waldbränden lese, diese seien auch dadurch verursacht, daß Familienzwistigkeiten nach alter Tradition auf diese Weise »geregelt« würden, dann scheint mir diese Mentalität doch eher nach Sardinien oder Griechenland zu gehören als nach Mitteleuropa …

Raus aus der »Bar Uruguay« und noch einmal durch die Straßen bummeln. In einem Restaurant aß ich noch einen Toast und trank noch ein Bier in Gesellschaft kichernder Teenager, dann ging ich gegen 22 Uhr ins Hotel zurück.

Keine Kommentare:

Donald und Kamala, die Lovestory :-)

Sind sie nicht süß? Und Klein-Donald erst, der aus dem Bauch herauskommt! So, jetzt muß ich mal gucken, wie ich das aus FB 'runterkrieg...