21.9.11

»Droben stehet die Kapelle«

... ja, und ich stand auch oben. Aber der Reihe nach.
Als Sonntag morgen (11.9.) um 20 vor sieben die Sonne blutrot zum Fenster hereinschien (»die rosenfingrige Eos, die frühgeborene« würde Homer sagen), wußte ich: Heute mach ich's. Heute probiere ich die Wanderwege aus, die ich schon lange ausprobieren wollte.
Es war dann aber doch schon 9.15 Uhr, als ich mit kleinem Rucksack auf dem Rücken die Haustür hinter mir zuzog.
Frühstück mit Kaffee und Apfelkuchen beim Bäcker an der Ecke. Sonntags-FAZ gekauft.
In Dußlingen Unsicherheit über den Weg - und mein mitgebrachter Tübinger Stadtplan endete am Nordrand Dußlingens. Mist!
An der Kirche hinauf, erinnerte ich mich dunkel meines früheren Kartenstudiums.
Hier bergauf trainierte im Januar 2009 eine Marathon-Trainingsgruppe. 19 Kilometer durch den Schneematsch. Ich gab nach der Hälfte auf. Nein danke.
Heute war es anders. »Im Frühtau zu Berge wir zieh'n, fallera« - von wegen! Schwülwarm war's, das einzig Feuchte war nicht der Tau, sondern mein Hemd.
Eine Mitwandrerin bestätigte mir, daß ich auf dem rechten Weg war. Hinter mir hatte ich die Kulisse der Albberge, vor mir links - mit einer kleinen Pappelallee - der »Eckhof«. Aber den ließ ich links liegen - ich wandte mich nach rechts Richtung Kreßbach.
Kreßbach - eine Siedlung in herrlicher Halbhöhenlage, mit Blick auf die Alb, südlich von Tübingen. Der letzte Herr auf Schloß Kreßbach soll sein ganzes Hab und Gut am Spieltisch in Baden-Baden verspielt haben, so raunte man, als ich noch ein Kind war. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Ob die Siedlung - ein teures Viertel im eh schon teuren Tübingen - nach der Pleite des Schloßherrn gebaut wurde?
Einen standesgemäßen riesigen Golfplatz haben die Kreßbacher schon - oder genauer gesagt: Er ist im Entstehen. Etliche hundert Meter ging ich an frisch eingesäten Golfwiesen entlang (»Bitte nicht betreten!«), riesige Bulldozer einer auf »Sportplatzbau« spezialisierten Firma standen herum, Folie war ausgelegt für einen Teich, größer als mein ganzer Garten - wird nett sein, die Golfbälle da wieder rauszufischen. Für so was gibt es mittlerweile ganze Firmen, die sich um das Recht prügeln, auf diesem oder jenem Golfplatz die verschlagenen Bälle aus dem Teich fischen zu dürfen, denn der preiswerte Wiederverkauf dieser gewässerten Golfbälle, einst eine clevere Geschäftsidee eines einzelnen, ernährt mittlerweile etliche Kleinfirmen, deren Mitarbeiter in den Golfteichen schnorcheln gehen ...
Noch vor einem Jahr konnte man, wenn man vom Neckartal, von Weilheim her, gefahren kam, auf der Höhe über Kreßbach die Alb gar nicht mehr sehen, weil der Blick von den (seit der Subventionierung des Energiepflanzenanbaus) wuchernden Maisfeldern verdeckt wurde. Das war gottlob seit Monaten schon Vergangenheit, und schon seit Monaten gab es beim Golfplatz ein »Schloßrestaurant«, in dem ich vor Wochen bescheiden eine Bauernbratwurst mit Kartoffelsalat für wenig mehr als fünf Euro verspeist hatte.
Und nun wurde der Golfplatz offenbar noch erheblich ausgebaut; Dienstag, zwei Tage später, berichtete das »Schwäbische Tagblatt« darüber.
Etliche Jogger und einige Radler waren unterwegs; Spaziergänger und Wanderer kaum. Ich tauchte wieder in den Wald ein. Nach etlichen Minuten wurde es wieder lichter - aber noch war ich nicht in Tübingen-Derendingen, sondern erst am oberen Rand des aufgefüllten »Müllplatzes Schweinerain«. (»Welch passender Name!« hatte ich früher immer gedacht.) Ganz allmählich ging es bergab, dann wurde es steiler, öffneten sich Ausblicke auf Tübingen, und auf ganz steilem Weg landete ich abwärts in Derendingen. Eine Viertelstunde noch, und ich war im »Bahnhöfle«: Seit der Bahnhof Derendingen nur noch ein Haltepunkt ist, wurde das Gebäude zu einer Kneipe - einer griechischen. Es war 12.20 Uhr.
Essen, Radler, Zeitung.
Nach einer Stunde ging ich weiter, die Bahn entlang, am Freibad vorbei, rüber über den Neckar. Die imposanten Belle-époque-Villen am Südhang des Spitzbergs wirkten von unten noch viel imposanter als in der Ebene.

Tübingen, warum bist du so hügelig?

Einen halb überwachsenen Serpentinenpfad hoch Richtung Schloßberg-Kammstraße. Vom 500 Meter entfernten Freibad drang der fröhliche Lärm der Planschenden an mein Ohr, so deutlich, wie der Schall nur aufwärts geht. Ach, das hätte mir jetzt hier gefehlt, ins kühle Naß einzutauchen, aber ich plagte mich schweißüberströmt nach oben.
Oben dann nach Westen. Aha, dachte ich, die Wegmarkierungen lesend, dieser Weg ist jetzt auch Teil des Jakobswegs. Er war markiert mit der blau-gelben Muschel und einem Pilgerstabzeichen. Vor lauter Jakobswegelagerei kann man kaum noch jakobsfreie Wanderwegen finden ... Wenigstens werde ich so die Wurmlinger Kapelle nicht verfehlen, führt doch der Jakobsweg gewiß über sie. Gab's die damals überhaupt schon? Oder wenigstens einen Vorgängerbau?
Zunächst - ein paar Schritte abseits vom Weg - der Bismarckturm. Was Bismarck wohl zu Merkel, Kohl, Westerwelle gesagt hätte? Ob er sie tüchtig übers Knie gelegt hätte?
Durch den Wald nach Westen. 75 Minuten soll der Weg bis zur Wurmlinger üblicherweise dauern, so ein Stadtführer, aber Ludwig Uhland, offensichtlich der Ahnherr aller Jogger, habe es in 40 Minuten geschafft. Ab und zu stehen Tafeln mit Uhlandgedichten am Wegesrand, aber auch Wegweiser zum Schwärzlocher Hof, einem Ausflugslokal. Eine Einkehr dort wäre mir jetzt gerade recht gewesen, meine Zunge klebte schon wieder am Gaumen - aber ich zog weiter westwärts, aus dem Wald heraus, halb bergab und wieder schweißtreibend steil bergauf bis auf den Bergkegel der Wurmlinger Kapelle. Ausblick genießen und rein in die Kapelle. Da ich zum Umfallen durstig bin, bleibe ich nur kurz, stifte eine Kerze und gedenke im Gebet aller guten Vorsätze, dann mache ich mich an den Abstieg. Das Gedicht »Droben stehet die Kapelle« ist ja ein schauerliches memento mori (so nach dem Motto »Unten im Tal hält der fröhliche Hirtenknabe beim Singen inne, wenn oben eine Beerdigung ist - warte nur, eines Tages wirst auch du dran sein«) - nix wie weg.
Kreuzwegstationen. Jesus wird ans Kreuz genagelt. Starben die Gekreuzigten nicht an Austrocknung? Das droht mir auch bald ...
Am Fuß des Kapellenbergs scheint das alte Traditionslokal »Kratzer« nimmer zu existieren, ich erinnerte mich dunkel an einen Zeitungsartikel, der sein Ende verkündete. Aber eine Getränkebude gab's gottlob.
Im Schatten konnte ich mich mit drei kleinen Pils wieder regenerieren.
Langsam wanderte ich im Tal gen Tübingen. Ein »Tanzlokal Uhland« feierte am Rand Wurmlingens sein dreißigjähriges Bestehen.
Hirschau: Drei Traditionslokale, Dorfgasthöfe, an der Hauptstraße, aber mich zog es jetzt nach Tübingen, ich wollte es zu Ende bringen.
Viele Radler unterwegs.
Immer müder wurden meine Schritte, mein mieser Rucksack löste sich in seine Bestandteile auf.
Etwa 18.30 Uhr wankte ich ins Tübinger Freibad unter die Dusche, und wieder grollte der Donner unter gewitterschwarzen Wolken, doch kein Unwetter folgte.
Im »Reefs« 50 Meter weiter mußte ich mich erst mal ausruhen, bis ich überhaupt was essen konnte - dann aber vertilgte ich das größte Steak, das sie hatten, zusammen mit drei Radlern. So viel Erschöpfung nach nur 28 bis 30 Kilometern - das ist kein gutes Omen für den Frankfurt-Marathon. Allerdings ist der auch viel flacher, und angenehm kühler ist es auch, nicht an die 30 Grad heiß ...
In der Abenddämmerung weiter zum Tübinger Bahnhof. Bahnhofsgaststätte auf ein weiteres Bier. Es war schon dunkel, als ich um halb neun in den Bummelzug nach Nehren stieg.
Um halb zehn fiel ich ins Bett.

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