1.11.12

Goldelse im Sonnenglanz: Berlin-Marathon 2012 (Teil III)

Nach unruhiger Nacht war ich schon wach, als um halb 7 der Wecker klingelte. Blick aus dem Fenster: Bedeckt, trocken. Das sei doch besser zum Laufen als Sonnenschein, meinte mein schottischer Zimmergenosse, der auch schon wach war und mir beim Duschen den Vortritt ließ.
Frühstück gab's mit Rücksicht auf die Marathonis (in dieser Juhe vielleicht ein bis zwei Dutzend) heute auch schon um 6 statt erst ab 7.
Zurück aufs Zimmer. Die Startnummer mit Sicherheitsnadeln ans T-Shirt fummeln kann ich auch noch in der S-Bahn, dachte ich und eilte um Viertel nach 7 aus dem Haus. Die Eile hätte ich mir sparen können, denn an der S-Bahn-Station Nikolassee angekommen, mußte ich 17 Minuten auf den nächsten Zug warten (der vorige war mir wohl gerade vor der Nase weggefahren), und so war es schon fast 8, als ich endlich am Hauptbahnhof aus der schon reichlich vollen Bahn stieg.
»Um 8 auf der rechten Seite der Fußgängerbrücke über die Spree« war unser vereinbarter Treffpunkt, aber es war nicht möglich, auf der rechten Seite der Brücke stehenzubleiben, zu schmal war die Brücke, zu dicht der sich über sie wälzende Fußgängerstrom - so ging ich weiter nach Süden und am Südufer nach rechts, blickte dem Menschenstrom entgegen. Um 8.07 Uhr sah ich sie endlich, S. und seine Freundin - sie hatten auf dem rechten Flußufer (in Fließrichtung) gewartet, also am nördlichen Brückenfuß ...
Klamotten abgeben, S. mußte auch noch aufs Klo und schmuggelte sich weiter vorn in eine der endlosen Schlangen vor den Klo-Kabinen, sonst hätte die Zeit bis zum Start gar nimmer gereicht (daher ist es immer besser, früher aufzustehen, dann kann man das noch »zu Hause« erledigen), und endlich standen wir im Startbereich. Der Himmel war blau geworden, trotzdem wurde es im Laufe des Tages nicht zu heiß, und die Victoria, die »Goldelse« auf der Siegessäule, erstrahlte vor blauem Hintergrund im güldenen Sonnenschein, während wir noch im Schatten der Bäume des Tiergartens bibberten, obwohl der Moderator am Lautsprecher wacker versuchte, uns einzuheizen. Der Moderator machte gute Stimmung, Til Schweiger und Didi Hallervorden machten Stimmung für ihre neuesten Filmprodukte, Hallervordens Film hieß passenderweise »Der letzte Lauf«, und der Star wollte, so tönte es über den Lautsprecher, auch ein paar Kilometer mitlaufen. (S. sah ihn später - so zwischen Kilometer 5 und 10 -, ich, weiter hinten, sah ihn nicht.)

9 Uhr - der erste Startschuß ertönte - janz weit vorne, ganz weit entfernt von unserem »Loserblock«, wie S. ihn nannte. 9.23 Uhr war's, als S.' und ich schließlich über die Startlinie joggten, vor uns eine kleine Schwarze mit einem Bienchenkostüm und viele andere in lustigen Verkleidungen. Ich trug ein T-Shirt mit Frackaufdruck (nicht dasselbe wie in Stuttgart, ein anderes mit einer aufgedruckten roten Rose im Knopfloch) und meinen steifen Hut (eine Melone also).
Wie eine Insel umspülte der Läuferstrom die »Goldelse«, vereinigte sich wieder, floß weiter westwärts bis zum Ernst-Reuter-Platz, gut zwei Kilometer vom Start entfernt, bog dort nordwärts nach Moabit ab, zwängte sich durch eine engere Straße ... Mühsam hielt ich mit S. schritt, obwohl er gar nicht so schnell lief, vielleicht 9 km/h. Wir unterhielten uns über dies und jenes. Ich: »Deine Stimme hört sich aber auch gepreßter an als letzten April beim Solitudelauf« (da hatte er diesen Eindruck von mir gehabt). Er: »Kein Wunder bei der miesen Vorbereitung!«
Bei der Kilometer-3-Markierung ließ ich mich zurückfallen, wir verabschiedeten uns voneinander, S. zog davon.
Vor der Schweizer Botschaft ganz in der Nähe des Reichstags munterten Kuhglocken und (wie an etlichen anderen Stellen) Jazzbands die Läufer auf ...
Über den weiten, öden Alexanderplatz. Ein Passant, ähnlich mollig wie ich, knipste mich und sagte: »Ich beneide Sie!«
Yorckstraße, Kreuzberg:: Wieder diese muffigen Eisenbahnunterführungen. An einer Stelle stand eine ganze Menschentraube auf der »Blauen Linie« (der man folgen sollte, will man keinen Meter verschenken). Wie die schnellen ersten Läufer da wohl durchkamen? Vermutlich wie Asterix und Obelix beim Durchbrechen der römischen Linien: Da wirbeln nicht nur die Beine, da wirbeln auch die Fäuste, und: ZACK! fliegen links und rechts in hohem Bogen die Römer davon ...
Nach 2:55, zwei Minuten schneller als beim Stuttgarter Halbmarathon, erreichte ich die Halbmarathonmarke. So - nun werde ich die zweite Hälfte nur noch flott spazierengehen, dachte ich. Endlich einmal Zeit, alles in Ruhe zu betrachten. Ich leerte den Inhalt meiner Trinkflasche (Red Bull) und begann, mit 6 bis 7 km/h walkend, den Lauf zu genießen. Endlich einmal Kraft und Muße, all die Kinderhände abzuklatschen, den Hut grüßend zu lüpfen (wegen meines Outfits bekam ich viel Aufmerksamkeit), sich links und rechts alles anzuschauen ...
Immer weiter Richtung Südwesten ging's, Richtung Zehlendorf. Manche Backsteinhäuschen am Rande der Strecke hätten auch in Holland stehen können, manche Holzhäuser im Thüringer Wald oder in Skandinavien. Die Felder einer landwirtschaftlichen Versuchsanstalt gaukelten Nähe zum Stadtrand vor - der aber in Wirklichkeit natürlich noch ein Stückchen entfernt ist ...
Immerhin gelang es um 1900 einem wilden Eber, in ein Gartenlokal vorzudringen und dort alles zu verwüsten - woraufhin der betreffende Platz in Schmargendorf, einer der südwestlichsten des Berlin-Marathons, fortan »Platz zum wilden Eber« hieß. Als ich mich ihm näherte, sah ich vor mir eine schlanke, junge Blondine, - eigentlich müßte sie mir bei ordentlichem Training locker davonlaufen -, die mir schon am Start aufgefallen war. »Sie sehen noch so beneidenswert frisch und locker aus!« rief sie mir zu. Ich war geschmeichelt, mußte aber daran denken, daß ich beim Wien-Marathon 2007 bei derselben Zeit schon locker ein halbes Dutzend Kilometer weiter war ... Immerhin taten meine Füße nicht ganz so weh wie sonst - vielleicht lag das aber auch an den drei Aspirin, die ich in mein »Red Bull« gemischt hatte.
Endlich ging es nach einem Rechtsschwenk wieder stadteinwärts - zunächst auf dem nicht enden wollenden Hohenzollerndamm, dann wurde auf einer Brücke der Autobahnring überquert, auf dem sich (unseretwegen vielleicht) der Verkehr staute, und irgendwann war der Kurfürstendamm erreicht. Nur wenige Läufer und Walker wurden flankiert von vielen Zuschauern. Ich kam in den Bereich eines Lautsprechers. Michel Descombes wurde interviewt, der »Spaßpräsident«, der nicht nur in Berlin im Clownskostüm vor allem den schwächeren Läufern Mut zuzusprechen pflegt. Einst ein sehr guter Läufer mit einer Marathonbestzeit von 2:50, hatte er noch jetzt - auf seine alten Tage - mehr »Biß« drauf als ich, er lief mir nach dem Interview davon (was allerdings auch keine große Kunst war). Immerhin wußte ich durch das Interview endlich mal, wie alt er ist: 71.
Vorbei an der Gedächtniskirche, an der vor 1990 der Zieleinlauf war (Start war auf der Wiese westlich des Reichstags). Mühsam krochen die Kilometer dahin. Einbiegen auf die »Potze«, die Potsdamer Straße, die B 1. Die Musiker am Potsdamer Platz (Kilometer 38) hatten netterweise noch nicht eingepackt. »Nur noch vier - dann gibt's Bier!« pflegten hier 2005 Cheerleader zu skandieren. Vorbei an den DDR-Blöcken der Leipziger Straße und später am schön restaurierten Gendarmenmarkt. Dann lange auf der Französischen Straße westwärts, erst spät ging's auf den Boulevard »Unter den Linden«, vielleicht wegen der Baustelle dort.
Der große Moment naht, der manche zu Tränen rührt: Unter dem Brandenburger Tor durch! Die Zahl der Zuschauer war inzwischen locker fünfmal so hoch wie der zu einem Rinnsal gewordene Läuferstrom. Und ich lief ja noch nicht mal richtig, ich walkte nur. (Noch 2002 wurde in Gegenrichtung gestartet, und gleich hinterm Start gab es vor und unter dem Brandenburger Tor einen Stau.)
Unter dem Brandenburger Tor war ich durch, ich war wieder in Westberlin, passierte das 42-Kilometer-Schild, der »Spaßpräsident« war wieder da, erkannte mich auch wieder, ich war ja wegen meines Outfits auffällig genug, noch ein kleiner Schlußspurt auf den letzten 50 Metern, ich lief über die Matte, das Erfassungsgerät piepste - aus! Das war's mal wieder! 6:21:39, mein langsamster Marathon - aber ein schöner, gemächlicher. Etwa drei Dutzend Läufer und Walker kamen noch nach mir.

»Spaßpräsident« Michel Descombes bei einer Laufveranstaltung (Hamburg-Marathon, glaube ich)
Mit schmerzenden Gliedern zur Klamottenausgabe, zur Chiprückgabe. Geld gab's diesmal keins, das würde später überwiesen werden - ein Glück, daß ich nicht mit dem Zwanziger gerechnet, sondern noch zusätzlich Geld eingesteckt hatte.
»Um 16 Uhr beim Schultheiß-Stand« hatten wir ausgemacht - aber den gab's gar nicht mehr. Mist! Ich tröstete mich mit Kasseler und Grünkohl sowie Bier.
»Wenn das nicht klappt, dann um 18 Uhr im Café Lebensart, Lennéstraße 1, 200 Meter südlich vom Brandenburger Tor«. Also gut. Ich setzte mich ins Café und bemühte mich, mit Zwiebelkuchen und Bier knapp zwei Stunden totzuschlagen.
Trotz des Sonnenscheins fror ich, es war kühl - drinnen und draußen -, vielleicht 15 Grad, ich mummelte mich in meine Jacke ein - die nackten Schenkel konnte ich nicht einmummeln -, und die Zeit kroch dahin.
Doch endlich war es 18 Uhr, und als ich S. und seinen Bruder auf der Straße erblickte (die Freundin war schon auf dem Eisenbahn-Rückweg), sprang ich auf, lief vor die Tür und winkte: »Huhu!«
Auch für S. war es der langsamste Lauf seiner Läuferlaufbahn geworden, 5:15 h, glaubte er zu wissen, und er freute sich wie ein Schneekönig, als er anderntags in der »Morgenpost« las, daß es doch »nur« 5:10 waren, fünf Minuten schneller als befürchtet. Schon bei Kilometer 12 sei ihm speiübel geworden, er habe ans Aufgeben gedacht, sich aber dennoch weiter vorangekämpft. Vor allem dieses Kohlehydrat-Glibberzeug sei ihm nicht gut bekommen (nicht zum ersten Mal). Da er von sich auf andere schloß, hatte er sich sogar Sorgen um mich gemacht, aber ich war vergleichsweise putzmunter.
Schließlich wurde es noch ein angenehmer, halbwegs bierseliger früher Abend, mein Frieren wich einer angenehmen Wärme, ich hatte nicht mehr den Wunsch, mich in der Juhe 20 Minuten lang unter die heiße Brause zu stellen, ich genoß den Abend, als wir über das pompös gestaltete Areal nordwestlich des Reichstags Richtung Hauptbahnhof gingen.
Ziemlich früh und ohne zu duschen fiel ich in der Juhe ins Bett ...

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