20.6.12

Stuttgarter Sommerspaziergang, 21,1 km

Die Sonnenbrille werde ich wohl doch nicht brauchen, dachte ich, als ich am Sonntagmorgen um 5.40 Uhr in einen eher grauen Himmel blickte. Seltsam eigentlich – es war doch Sonnenschein und Hitze vorhergesagt ...
Nach Wochen regnerischer Kühle war es am Samstag heiß und sonnig geworden, und solches Wetter war auch für den Rennsonntag vorhergesagt. Kühleres, bedecktes Wetter war zum Joggen natürlich besser – aber Flügel würde es mir dennoch nicht verleihen: So verfettet, wenig trainiert und unmotiviert war ich schon lange nicht mehr gewesen.
Aber nun war ich angemeldet, nun ging ich auch hin. Um halb sieben klingelte ich in Tübingen-Derendingen bei S., und gemeinsam fuhren wir gen Stuttgart. Ungehindert bogen wir am Charlottenplatz rechts ab und noch mal nach rechts, fuhren durch den Wagenburgtunnel in die Wagenburgstraße, wo wir parkten. Die Innenstadtroute hatten die Macher des Stuttgarter Halbmarathons nämlich nicht aufrechterhalten können, da gab’s natürlich auch keine Sperrung mehr zwischen Charlottenplatz und B 14. Wir würden wieder die etwas öde Strecke von vor 2008 entlangjoggen.
Abholen der Startnummer, Sporttasche abgeben, noch einmal kurz abhängen und dann gemeinsam in den Startbereich begeben. Wir standen im grünen Block, dem zweitschnellsten, in den wir eigentlich nicht gehörten. Rechts neben uns der 1:50-Schrittmacher mit seinem wohl heliumgefüllten Ballon, der an seinem T-Shirtkragen zerrte (noch ein paar Ballons mehr, und er würde wohl davonschweben), weiter vorne der 1:40-Schrittmacher und noch weiter vorn der 1:30-Schrittmacher. »Komm, laß uns weiter nach vorn gehen«, schlug ich vor – schließlich war mir jeder Meter recht, den ich an Vorsprung vor dem »Besenwagen« gewinnen konnte –doch S. fand es unfair, den Schnellen so den Weg zu verstellen, und so blieben wir an Ort und Stelle. Angegrinst und fotografiert wurden wir öfter, besonders ich, trug ich doch ein schwarzes T-Shirt mit aufgedrucktem Frack-Ausschnitt. Wenn man schon Schlußläufer wird (oder Fast-Schlußläufer), dann sollte man schon einigermaßen würdevoll daherkommen, fand ich.
In »unseren« Startblock konnten wir nicht mehr, dort stand die Menge schon viel zu dicht gedrängt.
Endlich einmal ging es pünktlich los, und ich trabte langsam den ersten Kilometer entlang. »Du brauchst nicht auf mich zu warten«, rief ich dem neben mir trabenden S. zu. »Ich kann gar nicht schneller«, erwiderte er, »ich laß es langsam angehen«. Er hatte mehrere Nächte mit zu wenig Schlaf hinter sich, und bewußt trug er bei diesem Lauf keine Uhr, um sich nicht selbst unter Druck zu setzen.
Start war diesmal wieder - wie bis 2007 - gen Osten, Richtung Untertürkheim. »Gut zu wissen!« meinte S., der fast schon in der falschen Richtung losgelaufen wäre. »Schau mal, da unten werden wir bei Kilometer 19 durchlaufen!« zeigte ich kurz vor Kilometer 1 auf eine Unterführung, die unter unserer Laufstrecke hindurchlief. »Ich starte dann mal durch«, entgegnete er und gewann langsam an Fahrt, setzte sich Meter um Meter von mir ab. Einige Minuten später war er der Zweitletzte des grünen Blocks, dann kam 50 Meter lang nichts, dann kam ich – und hinter mir gähnende Leere, denn der gelbe Block hatte sich wohl gerade erst auf den Weg gemacht. Etwa bei Kilometer 1,5 hörte ich hinter mir ein sich näherndes Getrappel wie von einer herannahenden Kavallerie: Der gelbe Block wälzte sich heran und überholte mich allmählich, schob sich zwischen mich und S., der dadurch kurz vor Kilometer 2 außer Sicht geriet.
Und wieder die altvertraute Spitzkehre in Untertürkheim – ab nach Nordwesten durch Bad Cannstatt, vorbei an öden Mietskasernen, in denen nur ab und zu mal jemand aus dem Fenster zuschaute.
Hinter Kilometer 6 dann bergab und nach rechts – die wenigen schönen Kilometer zwischen Weinbergen und Neckar begannen, ab und zu einen Seitenblick auf das andere Neckarufer, wo die flotten 80- bis 100-Minuten-Läufer mit 12 bis 16 km/h dem Ziel zueilten, kurz vor Kilometer 10 eine lange S-Kurve (wo man, wie S. mir später erzählte, sogar mal kurz den Max-Eyth-See zwischen Bäumen aufblitzen sieht, wenn man aufmerksam nach links späht – uns beiden war merkwürdig vorgekommen, daß wir den außer auf dem Stadtplan mit der eingezeichneten Laufroute noch nie gesehen hatten), die Zwischenzeitmatte, links rüber über den Neckar und wieder südwärts, die »Pilsbar Neckarlust« bei Kilometer 12,5 hat leider zu, wie auch andere Kneipen an der Strecke, statt die »Sonderkonjunktur« an diesem Tag zu nutzen – für Zuschauer, aber auch für den einen oder anderen Sportler, warum denn nicht? Noch in den 50er Jahren soll es bei der Tour de France vorgekommen sein, daß Fahrer vom Rad absprangen, im erstbesten Straßencafé Schampus oder Bier bestellten (»Die Rechnung geht auf die Tour!«) und dann erfrischt weiterradelten.
Etwa bei Kilometer 12 überholte ich Michel Descombes, den über 70jährigen ewigen »Spaßpräsidenten«, dann er wieder mich, und so ging es bis zum Ziel.
Wieder rüber über den Neckar und an der Ecke, wo wir etwa bei Kilometer 5 die Schnellsten gesehen hatten, nach rechts, eine langweilige Gerade, Kilometer 15 wird passiert, das letzte Drittel hat begonnen. Doch wo wir bis 2007 einfach die langweilige Straße weiterlaufen mußten, gibt es jetzt den netten Schlenker durch die Cannstatter Altstadt, an den wir uns in den letzten ein, zwei Jahren gewöhnt haben. Auch hier hatten die Cafés und Kneipen meist noch zu, eine hieß »Nanu nana«, private Rentnergruppen saßen auf Bänken am Straßenrand und tranken Wein, das Straßencafé »Tratsch« hatte schon geöffnet und war voller Leute, aber durch einen richtigen Zaun von der Strecke getrennt – außerdem hatte ich keine Zeit, war ich doch nur, wie ich ein Stück weiter aus aufgeschnappten Gesprächsfetzen von Ordnern entnahm, sieben Minuten vor dem Besenwagen.
Jetzt waren wir wieder raus aus der Cannstatter Altstadt und auf der öden alten Route, die vorletzte Wasserstelle, Kilometer 18, unter der Bahn durch, nach rechts, eine lange, sanfte Steigung, an der ich diesmal auch gehen statt laufen muß, der Schwenk durch Nebenstraßen - und vorbei am »Biereck« - entfiel jetzt aber, diesen erst vor zwei, drei Jahren eingefügten Schlenker hatten sie wohl dem - schöneren - Schlenker durch Alt-Cannstadt geopfert - gut so! -, nein, es war jetzt wieder der gerade Weg wie bis einschließlich 2007, kurz vor Kilometer 19 schwenkten wir letzten paar versprengten Läufer und Geher nach links ein, um im Bogen durch die Unterführung zu kommen, über die wir bei Kilometer 1 obendrüber gejoggt waren. Uns gegenüber näherte sich ein Polizeiwagen mit Blaulicht vor dem Ersten des 7-Kilometer-Lauf, der, aus der Gegenseite kommend, mit uns in dieselbe Unterführung einschwenkte.
Immer mehr - und allmählich auch langsamere - 7-km-Läufer überholten uns, das Ende nahte, Kilometer 20, jetzt informierten uns Tafeln alle 100 Meter, wie weit es noch war, Rechtsschwenk und fast wie in alten Zeiten Einlauf ins Stadion, nur daß es jetzt weder Neckarstadion noch Gottlieb-Daimler-Stadion hieß, sondern Mercedes-Benz-Arena und ein reines Fußballstadion war. Einen Rundkurs gab’s da aber zu meiner Verblüffung doch noch, und zu meiner noch größeren Verblüffung bestand er aus hartem Asphalt.
Ich mobilierte meine letzten Kräfte auf den letzten 200 Metern, Kilometer 21, noch 100 Meter, Endspurt, vorbei an einem der vielen Fotografen, die mich »Befrackten« (das hatte viele anzügliche Bemerkungen gegeben) hier gut trafen, und über die Matte *pieps* - geschafft! 2:57:28, las ich später im Internet – also immerhin noch unter 3 Stunden, und elf Läufer waren noch nach mir gekommen. Vorbei an einem munteren Michel Descombes und zum Ausgang.
Um S. nicht zu lange warten zu lassen, trank ich kein Bier, eilte mich, soweit es meine müden, schmerzenden Muskeln gestatteten, an der Chip- und Sporttaschenrückgabe und watschelte langsam die Wagenburgstraße hinauf.

Korrekt gekleidet bis zum Zieleinlauf!


Die Pizzeria nahe meinem geparkten Auto, wo ich S. treffen wollte, hatte zu, und wir fuhren mit dem Auto nach Degerloch ins »Pier 51«, beließen es aber bei Getränken – kein Wunder bei einem Bierpreis von rund fünf Euro, und der »Brunch« hätte gar 26 Euro gekostet.
Dann lieber weiter in die Tübinger Bahnhofsgaststätte zu Schweinesteak, Spätzle und Bier. Inzwischen war die Sonne herausgekommen, und es wurde heiß. S. hatte viel Spaß an seinem Lauf gehabt, hatte sich nach verhaltenem Beginn gesteigert und war immer schneller geworden (2:17), und natürlich waren ihm auch alle hübschen Frauen und skurrilen Gestalten auf der Strecke aufgefallen. Ich hingegen weiß nicht, ob ich mir diese immer gleiche Strecke in Zukunft noch antun soll – an die alten Zeiten kann ich wahrscheinlich eh nimmer anknüpfen.
Weiter nach Hause, nach Nehren.
Erst mal zwei Stunden pennen und eine halbe Stunde duschen, nachdem ich das warme Wasser wieder angestellt und die Warmwasser-Schaltzeiten umprogrammiert hatte (weil ich sonst im Fitneßstudio dusche, ist das heiße Wasser sommers meist abgestellt).
Gegen Abend noch mal mit dem Motorroller weg. Am Montag soll er zum 700-km-Service, und es sei besser, so der Werkstattchef, ihn schon Sonntag abend vor der Werkstatt abzustellen. Das war es wohl wirklich, denn Montag morgen sollten bei mir Handwerker anrücken, dann konnte ich nicht weg.
Gesagt, getan – abends um halb neun stellte ich den Roller vor der Werkstatt ab, warf den Schlüssel im Briefumschlag in den Briefkasten. Den Sturzhelm ließ ich im Gepäckfach des Rollers. Dann noch auf ein großes Pils in die 200 Meter entfernte »Bierakademie«, in der natürlich ebenso der Großbildfernseher das beginnende Fußballspiel Dänemark gegen Deutschland zeigte wie in dem Café 20 Meter weiter. 30 Jahre alt war die Kneipe vor Monaten geworden, sie hatte eröffnet, als ich im nahen Quenstedt-Gymnasium in Klasse 12 war - und kein großes Interesse an solchen Dingen hatte.
Anschließend heimwärtswanderung ins gut drei Kilometer entfernte Nehren (während der Werkstattmeister in der Halbzeitpause schon meinen Roller ins Haus schob), in der Abenddämmerung, bei lauer Luft, mit Grillengezirp und fast ohne Straßenvekehr. Als ich mich den ersten Häusern Nehrens näherte, war auf den Straßen nichts los, man hörte nur die gedämpften Geräusche von zahlreichen Fernsehempfängern mit Fußballübertragung und beim Siegtreffer der Deutschen in der achtzigsten Minute ein Aufbrüllen und Aufjubeln aus zig verschiedenen Ecken.

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