Adventsgeschichte: »Facebook« anno 1983 - Weihnachtsgedicht von Loriot

»Advent« heißt Ankunft - aber Ankunft wo?

Mit Kommentaren gibt's diese Story auch hier zu lesen (ich weiß nur nicht, ob das alle Nicht-SZ-Mitglieder sehen können).

*Zwinker*: Welches von den 3 Diandlmaderln is in Wahrheit ein Bursche? :-) Bild: Wikipedia








»Facebook« anno 1983



Geschichtchen, wie sie das Leben schreibt



Nachdenklich stand er am Rande der Aussichtsterrasse im kleinsten Badeort Deutschlands und blickte zu den nahen, grünen Bergen im Osten. Dieser Spätwinter und Frühling 2013 war einer kältesten, dunkelsten und verspätetsten seit Jahrzehnten gewesen, und selbst gegen Ende Mai wollte das kühle, regnerische Wetter immer noch nicht weichen.

Ob Goethe damals auch von so miesem Wetter geplagt war? fragte er sich. Kein Wunder, daß er das »Land, in dem die Zitronen blüh'n«, dem ungemütlichen Deutschland vorzog.

Vor der Terrasse verlief die stark befahrene Bundesstraße, die fast identisch war mit der »Schweizer Straße«, auf der Goethe einst, vielleicht nach einem Besuch bei seinem Tübinger Verleger Cotta, südwärts rollte.

Und schon wieder fing es an zu tröpfeln. Fröstelnd zog er sich ins Restaurant zurück, wo eine größere Gruppe Damen und Herren mittleren Alters feierte: 30 Jahre Abi, Abi an jenem »Gymi« direkt am Hang des vorgeschobensten der Albberge, drei Kilometer östlich. Der Pfarrer an der höchsten Kirche der Welt, der Erfolgsjournalist, der Physikprof, der Chirurg, der Erotikverleger … Und er war ein Teil dieser Festgesellschaft, schlenderte in einen Nebenraum, wo ein Diaprojektor alle paar Sekunden ein anderes Schwarzweißbild an die Wand warf. Was zum Geier …? fragte er sich, als auf einmal sein Bild an der Wand erschien. Verblüfft starrte er auf sein 30 Jahre jüngeres Alter Ego, das ihm da entgegenblickte – durch dieselbe Brille wie die, die er heute trug. Eine neuere war ihm Tage zuvor zerbrochen, und verwundert hatte er festgestellt, daß er mit der Uralt-Brille sogar besser in die Ferne sehen konnte als mit der neueren – auf diese Dias an der Wand zum Beispiel: alle paar Sekunden ein anderer Ex-Schulkamerad.

Und das ist doch …? Ja. Kein Zweifel. Jan F.*, sein »Busenfreund« in der 6. Klasse, wie es sein späterer Lateinlehrer altmodisch genannt hätte. In Klasse 7 trennten sich beider Wege, denn Jan wählte »Franz« als zweite Fremdsprache, er selbst Latein. Nur noch in den Pausen sahen sie sich gelegentlich, meist ohne Worte zu wechseln; seiner Mutter hatte sein »Umgang« mit Jan sowieso nie gepaßt. Damals, in Klasse 6, war Jan ein schmächtiges Bübchen mit schwarzem Mireille-Mathieu-Pagenschnitt, auf den Tag genau ein Jahr jünger als er, denn er war mit sieben eingeschult worden, Jan mit sechs. (Außerdem gab's noch eine Mitschülerin, die auf den Tag genau ein Jahr älter war als er, mit sieben eingeschult, nach Klasse 5 der Hauptschule in Klasse 5 des Gymnasiums wechselnd und schon etwas leicht Mütterliches ausstrahlend …) Auf dem an die Wand projizierten Schwarzweißdia wirkte Jan im Abituralter verändert, leicht ungelenk, schlaksig, als sei er irgendwie mit sich selbst unzufrieden, mit sich selbst nicht im reinen.

»Total vergessen, diese Bilder, was?« sprach ihn ein Schulkamerad grinsend von der Seite an. »Das seh ich deinem Gesicht an. Du bist nicht der einzige, der das total vergessen hat.«

Er nickte. »Stimmt. Aber jetzt kehrt die Erinnerung langsam wieder zurück.« Ein Mitschüler hatte zwischen schriftlichem und mündlichem Abi die Idee gehabt, unserem Direktor als Abschiedsgeschenk ein »Facebook« zu schenken, wie man es damals natürlich noch nicht nannte, nicht in Deutschland jedenfalls, ein Fotoalbum mit unser aller Porträts. Mit einem Freßkorb plus ein paar guten Tröpfchen wär' der Direx besser bedient gewesen als mit unseren Dutzendvisagen auf Papier, hatte er schon damals gedacht, und seine Skepsis drückte sich in seinem Bild deutlich aus, wie er mit verschränkten Armen auf dem Schulhof dastand und in die Kamera blickte.



Über Gott und die Welt hatte er mit Jan damals, in Klasse 6, auf dessen Zimmer gequatscht – umgekehrt gab es nie einen Besuch –, vor allem aber über »die Weiber« und wie es wohl sein würde, wenn man selbst schon eins dieser begehrenswerten Wesen sein eigen nennen könnte. »Praline« und »Wochenend« hatten sie in irgendwelchen Dorf- oder Buch- und Schreibwarenläden gekauft, diese »Rentnerpornos«, oder gleich an Ort und Stelle selbst gelesen, das knappe Taschengeld schonend, unbekümmert um flapsige Kommentare anderer Kunden, bis man sie hinauswarf: »Und wenn du alle nackigen Frauen angeschaut hast, kannst du die Illustrierte wieder weglegen! Und in Zukunft kaufst du entweder, oder du läßt es bleiben, und liest hier nicht mehr stundenlang gratis!« Dabei war's höchstens minutenlang gewesen …



In Ermangelung von Mädchen hatten sie sich auch gelegentlich selbst beschmust, wobei immer einer von ihnen »das Mädchen« mimen mußte, meistens Jan, denn er war kleiner, jünger, schmächtiger und noch weniger entwickelt. Wie nach einem Schulhof-Ringkampf preßte er Jan dann gegen dessen nur spielerische Gegenwehr zu Boden, schmiegte sich an und auf ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Du bist jetzt Janine! Du wirst jetzt gebumst!« Jan warf seine errötenden Wangen hin und her und versuchte, dem fälligen Kuß zu entgehen … ›Carpere oscula‹, ›Küsse rauben‹ – hier hätte dieses altmodische Übersetzungsdeutsch, wie ich's später in Latein lernte, mal seine Berechtigung gehabt, dachte er melancholisch.



»Ich hab keine Ahnung, als was ich da hingehen soll«, klagte Jan einmal in der kleinen Pause zwischen zwei Schulstunden, als eine von und in der Schule veranstaltete Faschingsparty näherrückte.

Er gab Jan vor aller Ohren, halb im Scherz, halb im Ernst, den Rat: »Geh doch als Mädchen!«

Am Abend der Party, nein, eigentlich schon zur Nachmittagskaffeezeit, denn es war trotz Februar noch hell, holte er Jan ab, wie ein Ballherr seine Balldame. Dabei wußte er, als er in seinem Kostüm – was war's eigentlich? Vergessen, belanglos … – vor Jans Haus stand, noch gar nicht, ob Jan überhaupt seinem Vorschlag gefolgt war.

Er war. Im Dirndl trat Jan aus der Haustür, halb verlegen, halb strahlend, und folgsam legte er seine zierlichere Hand in die fordernd hingehaltene Pranke des »Ballherrn«, und händchenhaltend legten sie beide zusammen die 500 Meter am Ortsrand zurück, zwischen Einfamilienhäusern links und den Wiesen rechts am vorgeschobensten Albhang.

Nach 400 Metern rechts das fast noch nagelneue Hallenbad. Im Gegensatz zu den meisten seiner Mitschüler hatte er Schwimmen gemocht – ebenso wie das Getuschel, kurz bevor er die Umkleide betrat. »Bei dem sieht man schon was« – die ersten Schamhaare nämlich; »und bei dem hört man schon was«, hätten sie auch noch sagen können – nämlich eine Baßstimme. Bei beidem war er früher dran als seine Mitschüler, ungewöhnlich früh für »Klasse Sex«, wie es einer der regelmäßigen »Pral(l)ine«-Leser nannte. Haha. Der Wunsch als Vater des Gedankens …

Dann endlich das häßliche, wenige Jahre junge Schulzentrum, Waschbeton, breit und flach mit einem auffälligen Schornstein, »wie ein aufgetauchtes U-Boot« (so ein Kritiker). Viele Schulzimmer hatten gar keine Fenster nach außen, nur die nicht zu öffnenden Dachfenster eines Sheddachs. Heiß und miefig war's da sommers öfter – auch an jenem Sommertag, als die Klasse nach der letzten Stunde schon gegangen war und nur noch vier Schüler im Klassenzimmer zurückgeblieben waren: zwei kesse Mädels, Jan und er. Ein Tennisball fand sich schnell, ein Spiel auch: »Abschießerles.« Und immer verloren die, die im Grunde verlieren wollten – wegen der hoffnungsvoll erwarteten »Strafe«. Als es Jan und ihn erwischte, hatten sie auf Befehl der Mädchen gehorsam die Hosen heruntergelassen und sich rundherum präsentiert. Dann machte eins der Mädchen, später nicht ganz ohne Grund von manchen »Nutti« genannt, leuchtenden Auges den Vorschlag: »Wenn ihr uns abschießt, sind wir eure Sklavinnen!« Das klang verheißungsvoll, doch wenig später mußten Jan und er feststellen, daß »Sklavinnen« durchaus zickiger und widerspenstiger sein konnten, als man(n) sich das so vorstellte … Non scholae, sed vitae discimus …



Hastig zog Jan seine Hand aus der seinen zurück, als die Einlaßkontrolle zur SMV-Faschingsparty in Sicht kam – dabei hatte man dort (wie anderswo) nur Augen für die knackigen Äpfel, die als »Möpse« Jans Dirndl vorne ausfüllten …



Der Spätnachmittag schritt voran, wurde zum frühen Abend, die Tanzfläche belebte sich, die Musik aus der Konserve bestand nur aus überlauter Rockmusik, kein Wiener Walzer (den er damals sowieso noch nicht tanzen konnte), aber auch kein Blues, der auf den Parties der einzelnen Klassen oft den Vorwand für »die Schmuser« bildete, für eng aneinandergeschmiegtes Befummeln und Tanzen fast nur auf der Stelle, ganz langsam und genüßlich. »Die Blueser und Schmuser.« »Stehblues«, ja, so nannte man das damals. Wie gerne hätte er »Janine« vor aller Augen eng an sich gezogen …



»Na – ganz in die Betrachtung der Vergangenheit versunken?« Das war wieder der Schulkamerad, der ihn schon vorher lächelnd angesprochen hatte.

»Äh … ja«, erwachte er aus seinen Träumereien. An der Wand erschien aus dem Kreislauf der Bilder gerade wieder das Bild von Jan F. Aus Neugier, aber auch einfach nur um etwas zu sagen, fragte er: »Was ist aus Jan F. eigentlich geworden? Ich hab ihn noch nie bei einem unserer ›Veteranentreffen‹ gesehen …«

»Wirste auch nicht mehr – nie mehr.«

»Wieso nicht?« Ihm wurde leicht unbehaglich zumute.

»Jan F. ist tot. Hat sich umgebracht.«

Sein Unbehagen verstärkte sich.

»Selbstmord?«

Sein Gesprächspartner nickte. »Selbstmord, ja.«

Er wandte sich ab, ging ans Fenster, tat so, als studierte er die Landschaft, die allzu vertraute. Ein Teil von ihm wollte fragen: Warum? Wieso? Weiß jemand was Genaueres darüber? Aber er brachte kein Wort über seine Lippen. Bloß nicht daran rühren, flüsterte etwas in ihm. Willst du es wirklich so genau wissen?



»Auf geht’s!« rief ihm ein anderer Schulkamerad grinsend zu. »Jetzt geht’s in die Zielgerade! Nach dem normalen Büfett gibt’s jetzt noch ein süßes Dessert-Büfett!«

Er lächelte verlegen und legte die Hand auf sein Bäuchlein. »Danke – das normale Büfett hat mir schon etwas auf den Magen geschlagen; ein andermal!« Er griff sich seine Jacke mit dem Autoschlüssel und seinen Hut, grüßte in die Runde: »Bis zum nächsten Mal!«



Frische Luft, endlich! dachte er, als aus dem Lokal trat. Seine rechte Hand klimperte mit dem Autoschlüssel in der Jackentasche. Unter dem grauen Himmel setzte wieder der Nieselregen ein.



Auf dem Heimweg fuhr er an jener Bushaltestelle vorbei, an der einige Jahre nach der Faschingsparty die Schulbusse in seinen Wohnort abfuhren. Auch auf ihren Bus warteten dort der bullige Anführer einer Halbstarken-Mopedrockergang und sein Fanclub, und gelegentlich trat dieser Gang-Boß ihm in den Weg und forderte unter dem Beifall seiner Jünger grinsend: »Komm, gib mir einen Zungenkuß!«

Diesmal war er der Schwächere, stand stumm da und hoffte, daß der Gang-Boß das Interesse an der Sache verlieren würde – was auch stets eintrat. ›Ich wußte gar nicht, daß du schwul bist‹, hätte ich sagen sollen, ging es ihm müde durch den Kopf – auch auf die Gefahr hin, daß die Brille, die verläßliche, 100 Meter weit wegfliegt … Oder die Arme ausbreiten und sagen: ›Du traust dich ja doch nicht!‹ Heute könnte man noch dazu Handy-Filmer auffordern, das Ereignis zu filmen …



Die Leute werden nie gescheit, auch nicht mit über 40, dachte er und setzte seine Heimfahrt fort.



* Name geändert; ansonsten entspricht fast alles der Realität …


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Und hier noch ein besinnliches Weihnachtsgedicht von Loriot:


Im Försterhaus :-)



Schönen 1. Advent euch allen! :-)                       

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