12.2.11

4. Tag: Pedrafita do Cebreiro – Santiago de ComposteIa (Mo, 3.1.2011)

Nach acht Uhr morgens wurde es zögernd hell, nach neun ging über den Bergen im Osten die Sonne auf. »La Coruña: Sonnenaufgang: 9.06 Uhr«, las ich später in einer Zeitung. »Mittagshöhe der Sonne: 13.38 Uhr; Sonnenuntergang: 18.06 Uhr«. Und das Anfang Januar! Kam dann später noch die Sommerzeit hinzu, erreichte die Sonne ihren »mittäglichen« Höchststand erst 20 vor drei am Nachmittag, und um 12 Uhr »mittags« herrschte tiefer Vormittag. Eine völlig verdrehte Uhrzeit.
Runter in die Gaststube zum »Frühstück«, das aus zwei Milchkaffees und einem Bonbon besteht – zu essen gibt's nichts, und die Kaffees mußte ich selbstverständlich auch bezahlen. Mein Auto sah nach der Nacht noch weißer aus als ohnehin schon – überzogen mit einer dicken Rauhreifkruste.
Wieder aufs Zimmer. Ein paar Fotos aus dem Fenster auf die in der Morgensonne liegenden Teile des Ortes (das Hotel lag im Schatten von Bergen, die nach Westen, Richtung Santiago, aufragten). Aufbruch um halb elf. In schwarzer Hose und schwarzem Pulli brachte ich das Gepäck zum Auto, ließ den Motor warmlaufen, während ich das – zum Glück leicht entfernbare – Eis von den Scheiben kratze. »- 2 Grad Celsius« zeigte die Laufschrift auf der Schattenseite meines Hotels an.
Rauf auf die Straße nach Santiago, kaum ein paar Dutzend Meter vom Hotel entfernt. Gleich war ich aus dem Ort heraus, und die Straße stieg stetig an. »Santiago de Compostela 171 km« verkündete eine Hinweistafel. Stop an einer Parkbucht (und wenig später noch einmal). Blick zurück auf den Ort, Fotos. Ein herrliches Panorama breitete sich vor mir aus: Das Tal mit der Autobahn und der Nationalstraße 6 La Coruña-Madrid, bis zu 1600 Meter hohe grüne Berge, die tieferen Täler alle dekorativ im Nebel »ertrunken«, während hier oben schönster Sonnenschein und mildes Wetter herrschte. Noch – der Wetterbericht drohte damit, daß eine Regen- und Sturmfront nach der anderen Galicien von Westen her durchziehen würde, schon bald.
Nebelsuppe in den Tälern Galiciens
Nach wenigen Kilometern passierte ich schließlich in 1300 Metern Höhe das Dörfchen O Cebreiro auf einem Bergkamm, kaum 100 Einwohner dürfte es haben – und ein Pilgerhospiz mit jener Webcam, die die herrlichen Ausblicke Richtung Nordwesten einfängt, mal verschneit, mal grün, wie jetzt. (Nur wenige Schneereste waren noch zu sehen.) Eine Straße zweigt hier links ab in noch einsamere Gefilde.
Ich wurde kurz langsamer, hielt aber nicht an. Schade. Ich hätte mich vorher ausführlicher informieren sollen, was für ein bedeutender Ort O Cebreiro bei all seiner Kleinheit ist (siehe Kasten), dann wäre ich daran nicht so vorbeigeeilt.

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Klein, aber oho: O Cebreiro
Niedlich, klein und unbedeutend sieht es aus, das 1300 Meter hoch gelegene Dörfchen O Cebreiro: Eine Kirche, ein Dutzend Häuser, darunter einige »Pallozas«, ovale Hütten für Vieh und Menschen, mit Strohdach und ohne Kamin und Fenster, wie die Keltiberer sie vor 2000 Jahren bewohnten, mindestens zwei Gasthöfe, eine Pension, ein (sommers oft überfülltes und dann durch Zelte ergänztes) Pilgerhospiz und natürlich eine Kirche. Sogar eine ganz besonders berühmte (siehe unten). Ein Dörfchen, das fast ganz vom Jakobsweg lebt.
O Cebreiro ist die älteste Pilgerstation überhaupt: Bereits 836 stiftete Alfons der Keusche hier ein Pilgerhospital und gründete ein Kloster zu dessen Versorgung.
Im Jahre 1300 soll sich hier ein Hostienwunder ereignet haben: Ein frommer Bauer kam trotz Sturm den Berg hinauf zur heiligen Messe, die ein an Gott zweifelnder Mönch zelebrierte, der machte sich insgeheim lustig über den Bauern. Während der Eucharistie wandelte sich jedoch tatsächlich Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi, woraufhin der Mönch von seiner Skepsis geheilt war. – 200 Jahre später anerkannten zwei Päpste nacheinander das Wunder als »echt«, darunter Papst Alexander VI. aus dem Hause Borgia, Verwandter der Giftmischerin Lucrezia Borgia und berühmt-berüchtigt für seinen sittenlosen Lebenswandel.
Die dreischiffige Kirche Santa Maria ist die älteste Pilgerkirche am Jakobsweg und wurde zusammen mit dem oben erwähnten Kloster gebaut. Sie ist wegen der Stürme sehr tief in den Felsen gesetzt. Das Taufbecken aus dem 9. Jahrhundert ist ein Untertauchbecken, wie es bis ins 13. Jh. üblich war. Das Gnadenbild der Santa Maria la Real oder der Heiligen Jungfrau vom Cebreiro aus dem 12. Jh. wurde 1971 restauriert und ist alljährlich am 8. September Ziel einer Wallfahrt, an der schon bis zu 30.000 Menschen teilnahmen.
Der langjährige Pfarrer von O Cebreiro, Don Elías Valiña Sampedro (er lebte von 1929 bis 1989), war vielleicht der Wiederbegründer der modernen Jakobspilgerei. Seine Doktorarbeit von 1965 war dem Jakobsweg gewidmet, 1966 sorgte er für die Restaurierung der erwähnten Kirche (in der er auch begraben liegt), die Errichtung des Pilgerhospizes und einer Gaststätte, bald darauf schrieb er den ersten modernen Reiseführer für den »Camino francés«, die Hauptpilgerroute über Burgos und Leon. Ab 1984 markierte er weite Abschnitte des »Camino francés« neu – mit dem bis heute gebräuchlichen gelben Pfeil, den er einführte. Die Seite celtiberia.net berichtet eine Anekdote, die Aufschluß über die Größe seiner (inzwischen Realität gewordenen) Vision gibt: Polizisten der Guardia Civil beobachteten Valiña Sampedro beim Markieren eines Pyrenäenübergangs mit gelben Pfeilen, der auch gelegentlich von Mitgliedern der verbotenen baskischen Separatistenorganisation ETA benutzt wurde. Auf die Frage, was er da mache, erklärte der Pfarrer: »Ich bereite eine große Invasion vor!« Und damit behielt er recht. Santiago-Besucher gab's zwar schon in den 70er Jahren zu Hunderttausenden, darunter waren aber sehr wenige echte Pilger; der Jakobsweg war halb vergessen. Erst in den 80er und 90er Jahren schwoll der Pilgerstrom auf jenes Maß an, das wir heute kennen.
Die Gesamtgemeinde Pedrafita do Cebreiro, einschließlich des 1100 Meter hoch gelegenen Hauptorts, in dem ich übernachtet hatte, hatte 2010 1263 Einwohner. 2003 waren es noch 1517 gewesen. Von den heutigen Einwohnern sind fast 40 % über 65 und noch nicht mal vier Prozent unter 15 – Kennzeichen für einen Ort im Niedergang …
(Quellen: deutsche, englische und galizische Wikipedia)
Winterlicher Ausblick von O Cebreiro
Nicht nur für Pilger: Pension in O Cebreiro
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Das alles wußte ich nicht, ich las es erst, als ich wieder zu Hause war. Immerhin hat man so einen Grund wiederzukommen, und das nicht nur, um die örtliche Spezialität (den hier gemachten Frischkäse zusammen mit dem ebenfalls hier produzierten Honig) zu verkosten …
Ich bummelte langsam weiter auf der Straße, auf der ich fast allein unterwegs war. Wunderschöne Ausblicke, Pässe: 1220 Meter hoch, 1355 Meter hoch. Hie und da kleine Dörfchen – und erntereife Krautbeete. Immer wieder das Warnschild »Vorsicht Pilger!«, und einmal sah ich auch zwei Pilger.
Das Städtchen Samos lag noch hoch genug für Sonnenschein und 12 Grad, das nächste Städtchen namens Sarria nicht mehr. Im Tal eines Flüßchens gelegen, lag es inmitten grauen Nebels, und es war vier Grad kühl. Aber in Sarria gab es schon wieder die ersten Palmen, wenn auch nur schmale, über 100 Kilometer vor Santiago und 130 Kilometer vorm Meer.
Die Durchgangsstraße durchschnitt Sarria mit einer gewiß über einen Kilometer langen Straßenschlucht, gesäumt von den üblichen Kästen rechts und links, die man in Deutschland als unangemessen hoch für eine Kleinstadt empfände. Einen Parkplatz fand ich erst, als ich den Stadtkern mit den meisten Geschäften und Kneipen schon hinter mir gelassen hatte.
Der Boden der Kneipe, die ich betrat, war schon vermüllt – aber zu essen à la carte (nach der Karte, die ich hungrig vor der Tür studiert hatte) gab's noch nicht, es war ja noch nicht 12 Uhr. Immerhin stillten einige kalte Häppchen, größer als Tapas und bezahlpflichtig, meinen größten Hunger.
Weiter nach Westen, bei Portomarin über den hier seeartig aufgestauten Rio Miño, der weiter im Süden die Grenze zu Portugal bildet, eine Grenze, an der sich die beiden Nachbarn wie üblich ziemlich den Rücken kehren. Als irgendwann in den 1880er Jahren eine erste Eisenbahnbrücke über den Fluß beide Länder verband, vergaß man nicht die Sprenglöcher – damit man im Kriegsfalle die Brücke rasch in die Luft sprengen könnte …
Santiago war jetzt noch gut 100 Kilometer entfernt. Wer die begehrte »Compostela«, die Pilgerurkunde, bekommen will, der muß nachweisen, die letzten 100 Kilometer zu Fuß oder die letzten 200 Kilometer zu Rad oder zu Pferd zurückgelegt zu haben, mit den Stempeln von Pilgerherbergen als Beweis.
In der Tat sah ich jetzt öfter Pilger, dort, wo der Pilgerweg in Sichtweite der Autostraße verlief – oder sie kreuzte. Wunderte ich mich an einer Stelle über ein Schild »Vorsicht Pilger!« – der Pilgerweg schien mir hinter einer Hecke zu verlaufen –, so trat im nächsten Moment ein Pilger mit Rucksack und Pilgerstab zwischen zwei Sträuchern an die Straße, wollte sie queren, und wäre ich nicht so langsam gefahren und er nicht so wachsam und vorsichtig …
Allmählich wurde das Land flacher, dichter besiedelt, etwas langweiliger, unspektakulärer. Tankstop.
Gegen 15 Uhr war ich kurz vor Santiago. Die Straße ging in eine Autobahn über – die ich sofort wieder verließ. Der Vorort Lavacolla – mit Flughafen und Jugendherberge, leider viel zu weit draußen.
Ich rollte durch eher häßliche Bezirke am Ostrand der Stadt, über den Monte Gozo, den »Berg der Freude«, von dem aus die Pilger zum ersten Mal die Kathedrale in der Ferne sehen konnten.
Und nun kurvte ich wieder durch die Stadt und wußte nicht, wohin. Ein teures Hotel wie letzten Mal wollte ich nicht noch einmal; wo sich billigen Pensionen für Pilger befanden, wußte ich allerdings nicht. Vermutlich in der Fußgängerzone der Altstadt …
Ah! Hier ist das Hotel vom letzten Mal! Ich fuhr an den Rand und faltete den Stadtplan auf. Und jetzt hierhin und dahin zu einem hoffentlich etwas preisgünstigeren Hotel … Aber ich verfuhr mich. Nahe der Altstadt passierte ich überraschend vergammelte Sanierungsgebiete und bog dann westwärts ab.
Eine schmale Einbahnstraße aus grauen, glatten Steinblöcken, links und rechts weiße bis graue Häuser … Warum kam mir die Straße so bekannt vor? Richtig: Auf Pilgern.ch war sie abgebildet. Es war die Straße, die direkt von der Kathedrale weg nach Westen an den überraschend nahen Stadtrand führte – für diejenigen Pilger, die in eitler weltlicher Neugier noch einen Blick auf das Ende der Welt (»finis terrae«) werfen wollte. (Man sieht die grünen, unbebauten Hügel vom Kathedralenvorplatz aus in rund einem Kilometer Entfernung). Und hier ein Hotel, drei Sterne nur - »San Lorenzo«. Aber wo parken? Die schmale Straße – die Gehwege mit Pollern abgeschirmt – bot nirgends Parkmöglichkeiten. Nach vierhundert Metern abbiegen nach rechts. Sackgasse. Wendeplatte. Ich parkte nahe einer dicken, malerischen Eiche. Ich hatte den Stadtrand erreicht. Doch auch die Häuserzeilen täuschten etwas Städtisches vor, das in Wirklichkeit nur als Fassade existierte: Ging man, wo sich die Gelegenheit bot, zwischen den Häusern durch, war man gleich im Grünen, zwischen Wiesen und Gärten, durchzogen von Pfaden, der Hahn besprang die Henne, aus üppigen Orangenbäumen waren Früchte auf den Rasen gefallen, es gab vergammelte Gerätehäuschen … und zum Greifen nahe sah man das Westportal der Kathedrale, fast so, als stünde diese in einer ländlichen Umgebung.
Von der Wendeplatte führte ein schmaler Weg nach Westen, zwischen bemoosten Mauern, Palmen und Efeu: Der Jakobsweg sagte hier »Tschüß!« zu Santiago und schlug sich westwärts in die Büsche.
Ja, das Hotel San Lorenzo hatte noch ein Zimmer frei. 57 Euro mit Frühstück, halb so viel wie letztes Mal.
Kurz frisch machen, dann auf in die Stadt. Entlang der Straße Richtung Kathedrale stand locker ein halbes Dutzend dieser schmalen Altstadthäuser zum Verkauf, einige in offenbar noch ordentlichem Zustand, andere kurz vor ihrem Einsturz. In Portugal warteten viele vergammelte Altstadthäuschen vergeblich auf Käufer, hatte ich Monate zuvor in einem Artikel in der FAZ gelesen. Offenbar war es in Galicien genauso.
Rein in die erstbeste Bar, in der man auch was essen kann. Ich ließ mir Pulpo servieren, Tintenfisch mit Salzkartoffeln und Brot, und blättere bei einem Bier in der »Voz de Galicia«, der »Stimme Galiciens«. Wetterbericht: In Frankfurt schwankt die Temperatur zwischen -1 und -4 Grad, in Berlin zwischen -2 und -8 Grad, in Moskau zwischen -15 und -25 Grad. Je östlicher, desto eisiger. Immer noch läßt ein strammes Hoch alle atlantischen Regenfronten abprallen. Doch auch in den hochgelegenen Städten im spanischen Binnenland soll es leichte Nachtfröste geben. An Galiciens Küste sollte es sehr mild (bis 15 Grad), aber auch sehr stürmisch und regnerisch werden.
Draußen fing es an zu regnen - die angekündigte Regenfront. Als ich schließlich vor der Kathedrale stand, hatte es sich richtig eingeregnet. (Immerhin nur eingeregnet und nicht eingeschneit wie im Februar 2010, als Kinder vor der Kathedrale einen Schneemann bauen konnten, wie ich auf einem Plakat sehen konnte.)
Regen in Santiago – angeblich der Normalzustand dieser Stadt. Der Dudelsackspieler in dem Durchgang nahe der Kathedrale paßte irgendwie dazu …
Ich ließ mich treiben durch die Altstadt. Das unebene Steinpflaster bildete zahlreiche Pfützen, in die man fast unvermeidlich hineinstolperte, wenn man mehr auf die Stadt achtete als auf die eigenen Füße. So saß ich mit nassen, klammen Füßen in diversen Bars, und das Bier wollte mir nicht so recht schmecken.
Wenige Touristen waren unterwegs, wenige Einheimische, zudem war Montag, viele Kneipen hatten zu (nur die Souvenirläden nicht).
Verregneter Montagabend in Santiago – Zeit, wieder ins Hotel zu kommen. Aber vorher auf dem Weg dorthin noch in diese kleine Kneipe da rechts … Das Bier kostete dreimal so viel wie anderswo und kam noch nicht mal vom Faß, eine Frau hieß mich gleich mit Küßchen rechts, Küßchen links willkommen und wollte sich zu mir setzen … Nanu – wo war ich hier hingeraten? Unangenehme Erinnerungen an ein zwielichtiges Lokal in Soho kamen hoch, und ich verweigerte ihr die im ersten Moment gegebene Erlaubnis, sich neben mich zu setzen, wieder – nicht daß es noch Unsummen kostet …
Es waren aber nur schräge Typen und kein Nepp, und mein abweisendes Benehmen wurde mir nicht übelgenommen. Als ich später auf der Suche nach noch unbekannten Kneipen noch mal an dem seltsamen Lokal vorbeikam, stand meine »Gefährtin« zu einer Rauchpause draußen und grinste und winkte mir fröhlich zu. Die spanischen Antirauchergesetze hatten sich unerfreulich in Richtung der deutschen verstrengt – ein Wunder, daß sich die Südländer das bieten ließen. Manche nutzten die Rauchpause aber auch, um gleich zechprellend zu verschwinden, diese Unsitte sei mit den neuen Gesetzen eingerissen, las ich später zu Hause in der FAZ, so daß manche spanischen Wirte jetzt dazu übergegangen seien, nach jedem Bier und jedem Happen gleich abzukassieren, was früher ganz unüblich gewesen sei. O tempora, o mores …
Ich kehrte noch einmal in die Kneipe ein, in der ich den Tintenfisch gegessen hatte, und verzog mich dann ins Hotel, zog mir die Decke über die Schultern, öffnete das Schiebefenster – auch wie in Großbritannien – leicht und ließ mich vom mitunter heftigen Rauschen des Regens in den Schlaf wiegen ...
Nachts in der Altstadt von Santiago

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Donald und Kamala, die Lovestory :-)

Sind sie nicht süß? Und Klein-Donald erst, der aus dem Bauch herauskommt! So, jetzt muß ich mal gucken, wie ich das aus FB 'runterkrieg...